Gruber Geht
sein? Und sollte er nicht wollen, wie sonst, dass sie jetzt dann aber mal die Fliege macht? Es passt überhaupt nicht zu ihm, aber er will jetzt nicht, dass sie die Fliege macht, er will es überhaupt nicht.
«Wann musst du auflegen?», fragt Gruber.
«Ab halb elf», sagt Sarah, «wie spät ist es?»
«Kurz vor sieben», sagt Gruber. «Hast du Hunger? Sollen wir etwas essen gehen?»
«Gerade eben nicht», sagt Sarah, «aber dürfte ich eventuell bitte rauchen?»
«Du darfst, wenn du mir auch eine gibst.» Sarah stellt ihr Glas ab. Sie stellt es direkt auf das weiße Kuvert, das ihr nicht auffällt, weil sie suchend durchs Zimmer schaut. «Wo ist meine Tasche?» Gruber hievt sie ihr von der anderen Seite des Bettes herüber, es ist eine große Tasche. Frauen haben immer zu große oder zu kleine Taschen, Gruber weiß nicht, was er schlimmer findet. Die hier ist riesig. Sarah kramt darin und fischt eine Packung blaue Gauloises heraus und kramt weiter und stößt – «tadaa!» – triumphierend ein Feuerzeug in die Luft. Sie steckt Gruber eine Zigarette in den Mund und gibt ihm Feuer. Und sich. Und nimmt sich wieder das Glas. Und bemerkt das Kuvert. Und greift danach. Und hält es hoch. «Sorry, ich hab einen Rotweinrand darauf gemacht. Was ist das?» Gruber zieht an seiner Zigarette und starrt wortlos geradeaus, Sarah wird rot, legt den Brief hastig zurück. «Entschuldigung, geht mich überhaupt nichts an, so gut kennen wir uns nicht, tut mir leid.»
«Schon gut», sagt Gruber, «ein Brief vom Krankenhaus.»
Sarah raucht und sagt nichts.
«Du darfst fragen», sagt Gruber.
«Darf ich oder soll ich?», fragt Sarah.
«Meinetwegen. Du sollst», sagt Gruber.
«Also, was steht in dem Brief?», fragt Sarah.
«Ich weiß es nicht», sagt Gruber, «ich habe ihn ja noch nicht aufgemacht.»
«Wie lange schon nicht?», fragt Sarah.
«Na ja, so ungefähr zwei, drei Wochen nicht», sagt Gruber. Sarah nimmt den Brief wieder und hält ihn mit beiden Händen vor sich. «So sieht er auch aus. Willst du ihn weiterhin nicht aufmachen?»
«Ich weiß nicht», sagt Gruber. «Ich sollte wohl irgendwann. Oder du machst ihn für mich auf. Ja, genau, du. Mach ihn auf.»
Sarah schaut Gruber an. Gruber schaut Sarah an. Er legt alle Entschlossenheit in seinen Blick, die er gerade noch erübrigen kann.
«Was könnte denn drin stehen?», fragt Sarah, «du musst doch eine Ahnung haben.»
«Hab ich nicht», lügt Gruber, «ich habe überhaupt keine Ahnung.» Seine Hand liegt auf seinem Bauch. Nichts. Schon seit gestern nichts. Vielleicht ist es weg. Vielleicht war es nur ein Irrtum.
«Wenn er vom Krankenhaus ist, bin ich dafür vielleicht sogar die Richtige», sagt Sarah. «Ich habe immerhin fünf Semester Medizin studiert.»
«Im Ernst?»
«Im Ernst.» Und sie klingt auch ernst, als sie auf seine nächste Frage antwortet, denn wer fünf Semester Medizin studiert hat, weiß, dass es keine netten Briefe vom Krankenhaus gibt. «Ich habe aufgehört, weil das mit dem Auflegen so gut hingehauen hat. Zack, auf einmal war ich D J . Und kriegte richtig Kohle dafür. Was man mit vierundzwanzig tendenziell besser findet als Tag und Nacht büffeln und Schaumgummibrot mit Ketchup von Aldi. Bist du sicher, dass ich den aufmachen soll? Ganz sicher?»
«Ja», sagt Gruber, «ich bin sicher. Mach auf.»
Gruber legt sich zurück auf sein Kissen und starrt seinen schlaffen Schwanz an. Sarah dreht das Kuvert um und schlitzt es mit dem Nagel ihres kleinen Fingers auf. Sie zieht den Brief heraus, faltet ihn auf und liest. Sie sieht nicht froh aus, als sie liest. Sie grinst kein bisschen. Sie legt den Brief auf ihren Bauch und dreht ihr Gesicht zu Gruber. Dann schaut sie wieder auf den Brief. Ernst. Sie sieht sehr ernst aus. «John. Da steht, du hast einen Tumor im Bauch. Sie befürchten, er ist bösartig. Du hast vielleicht Krebs.»
Gruber bewegt sich nicht, blinzelt nicht, nichts. Sein Schwanz ist ein kurzer, dicker, rosiger Wurm in einem haarigen Tal. Gruber denkt: Aha. Und: Ja scheiße. Und: Hab ich eh gewusst. Und: Scheiße also.
Sie hält den Brief wieder hoch.
«Da steht auch, du sollst so schnell wie möglich für weitere Untersuchungen vorbeikommen. Du sollst keine Zeit verlieren. Damit du gleich mit der Behandlung beginnen kannst, falls sich der Verdacht bestätigt.»
«Ja», sagt Gruber und nimmt ihr den Brief weg: «Ja. Danke. Hm. Danke.»
Ins Mascotte ist er dann aber nicht gekommen. Ja, natürlich habe ich auf ihn gewartet, ich
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