Gruber Geht
Hauswand, die beschlagenen Gläser klackern unelegant aufeinander. Kathi trägt Shorts und ein Leiberl und hat die dicken, dunklen, graudurchsetzten Haare irgendwie zusammengebunden. Sie sollte sich die Haare färben, denkt Gruber, sie ist noch nicht alt genug, um sich die Haare nicht zu färben. Sie sah früher besser aus, in ihrem kranken, halbkaputten Leben, kantiger, kontrastreicher, nicht so verschwommen und unscharf wie jetzt. Das steht ihr nicht, das gesunde Leben, findet Gruber. Aber zum ersten Mal und höchst ungern bringt er dafür, dass jemand Stil gegen Zufriedenheit eintauscht und Eleganz gegen Gesundheit, einen halben Zentimeter Verständnis auf. Nein, nur einen viertel Millimeter. Immerhin.
Im Ernst, sagt Kathi, jeder ihrer Hinweise darauf, dass Tom ein Problem habe, werde mit dem Gegenzug, dass sie selbst ein Problem habe, abgeschmettert. Aber wann bitteschön sei sie letztes Mal besinnungslos und nackt in der Küche gelegen?
Letzte Woche vielleicht, unter dem Spießer?
Auch das sei sehr lustig, haha, aber daran könne sie sich leider schon gar nicht mehr erinnern.
So genau wolle er es jetzt bitte lieber nicht wissen.
Dann solle er nicht so deppert reden! Jedenfalls spielten Toms Alkoholproblem und ihr Alkoholproblem, falls sie denn überhaupt eins habe, nicht einmal annähernd in der gleichen Liga, Bundesliga gegen Zwergerlliga sozusagen.
Aber das wolle der Spießer nicht begreifen.
Genau, das wolle Tom nicht begreifen.
Prost.
Ja, Prost.
Vielleicht sei es ja ein Protestverhalten des Spießers gegen ihre Domestizierungsversuche.
Ach was, wo sie denn Tom domestiziere, der habe doch eh alle Freiheiten. Also, im Rahmen seiner Möglichkeiten. Oder ihrer, haha.
Genau, sie möge ihm doch bitte noch einmal einschenken.
Mache sie gerne, aber nur wenn er endlich erzähle, wie es ihm gehe.
Es gehe ihm gut, sagte Gruber, jetzt wo die Aspirin wirkten, und ob er ihr vielleicht erzählen solle, wie er gestern diese Neunzehnjährige durch Sonne und Mond gevögelt habe. Kathi meinte, nein, das solle er, wenn es ihm irgendwie möglich sei, bitte nicht, es gehe ihm offenbar prächtig, sie glaube ihm auch so, wirklich, sie glaube ihm.
Dabei war ja nichts passiert. Ich meine, was war schon passiert, also: mir? Nichts war mir passiert. Kerl kennengelernt, Kerl gevögelt, Kerl weg. Business as usual, quasi. Aber ich bin mit seiner Notiz in der Hand zurück in mein Hotelzimmer, hab mich aufs Bett gesetzt und die Tränen sind mir waagrecht aus den Augen geschossen. Ich konnte nicht mehr aufhören zu heulen. Ich wusste, es ist nicht mehr wie vorher. Ich konnte nicht sagen, wie es jetzt ist, ich wusste nur, es ist nicht mehr wie vorher. Es gibt so Momente, da weiß man das einfach. Man kann es nicht erklären und nicht beweisen, man weiß es nur. Und später bin ich mit dem Taxi zum Flughafen gefahren und bin beim Boarding gesessen und habe mir ununterbrochen «So good to be here» angehört. Ich hab da ja diesen Wiederholungszwang. Ich hatte Al Green schon vorher im iPod gehabt, aber dann war’s nur noch dieser Song. Ich habe aufs Flugfeld hinausgestarrt und Al Green gehört und gegrübelt, und schließlich holte ich seinen Zettel raus, speicherte seine Nummer in mein iPhone und schickte ihm eine SM S : «ich fands auch schön. werd gesund. kuss, sarah». Das «Kuss» habe ich dreimal wieder gelöscht, xxx hingeschrieben, «liebe grüße», aber ich fand das zu kalt. Ich bin nicht cool. Und im Zweifelsfall bin ich lieber uncool als kalt, auch wenn Ruth immer sagt ... egal. Als ich das iPhone in Berlin wieder eingeschaltet hab, war nur eine Nachricht von Ruth drauf, ob sie kurz bei mir vorbeischauen könne am Abend, ihre Haare bräuchten einen Schnitt. Er hat nicht geantwortet, war wahrscheinlich zu uncool, meine SM S . Auf der Heimfahrt im Taxi habe ich wieder nur Al Green gehört und wieder geheult. Ich habe das an dem Tag sicher fünfzig Mal gehört. Das ist jetzt miteinander verknüpft, ich kann das noch immer nicht hören, ohne dass mir anders wird.
Danach hatte ich viele Jobs. War viel aus. Juli, meine Zwillingsschwester, war fünf Tage zu Besuch und es war mächtig anstrengend. Juli wollte in alle coolen Lokale ausgeführt werden, ich saß tagelang nur herum mit ihr, im Galão, in Clärchens Ballhaus, im Glücklich am Park, und dazwischen shoppen, shoppen und shoppen, und dann wieder sitzen und schauen und plaudern, im Gorki Park und im Haus am See, und dann Party und Prenzlauer Berg hoch und runter
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