Grün. Le vert de la Provence
kaufen. Er war nicht der einzige, der diese Idee
verfolgte. Menschenmassen schoben sich zwischen den Tischen und Regalen mit aktuell
angesagten Buchtiteln, Kalendern und Bildbänden. Lange Schlangen warteten vor
den Kassen und Stationen, an denen die erstandenen Präsente schenkfertig
weihnachtlich verpackt wurden. Anselm zögerte einen Moment, verließ entmutigt
wieder den Laden und überlegte, ob er nicht doch über das Internet einkaufen
sollte.
Wenige Meter von ihm entfernt stand eine junge Frau. Sie
sang. Weihnachtslieder. Als Engel verkleidet, mit geübter Stimme und im
Diskant. Dazu bimmelte sie unentwegt mit einem kleinen Glöckchen und strahlte
wie der fleischgewordene Weihnachtsstern. Anselm grauste es. Er bedauerte das
Verkaufspersonal der umliegenden Geschäfte und empfand das spontane Bedürfnis,
dieser nachdrücklichen Weihnachtlichkeit zu entfliehen. Er betrat die
Hanse-Passage, steuerte das Bistro im Zentrum an und bestellte ein halbes
Dutzend bretonischer Austern und einen eiskalten Muscadet. Der Genuss war
perfekt. Wenigstens rechtfertigte dieser Teil des Nachmittages die Unbill des
Einkaufens.
Luc Vidals Anruf kam völlig unerwartet und weckte die
Erinnerung an die Hitze der Augustwoche. Das Grauen kam zurück; die flirrenden
Bilder und das Bewusstsein, die direkte Nähe von Wahnsinn und Tod erlebt zu
haben.
„Schneit es bei Ihnen?“, fragte der Kommissar im
Plauderton, der Böses ahnen ließ.
„Es ist scheißkalt. Widerliches Wetter! Und wie sieht es
bei Ihnen aus?“
„Auch scheißkalt. Aber ich denke, bei Ihnen ist die Kälte
besser zu ertragen. Ihre Wohnungen dürften für die kalte Jahreszeit eher
geeignet sein als unsere hier. Ich habe bei mir nur einige kleine
Elektroheizkörper, das kostet ungeheure Summen an Strom und wärmt nicht
richtig.“
„Vermutlich haben Sie da Recht.“ Anselm registrierte
neugierige Blicke, mit der eine Vierergruppe vom Nachbartisch ihn bedachte. Ein
auf Französisch geführtes Telefonat in einem Hamburger Edelimbiss wollte
verstanden werden. „Ist das der Grund ihres vorweihnachtlichen Anrufs, Monsieur
le Commissaire?“
„Leider nein. Ich denke, Sie erinnern sich noch recht gut
an Madame Baumann, mit der Sie, wie es mir schien, mehr als ein vertrautes
Verhältnis hatten.“
„Natürlich erinnere ich mich! Wenngleich Sie unser
Verhältnis definitiv nichts angeht.“
„Nun, im Prinzip stimme ich Ihnen da zu. Aber ich habe
mich immer gefragt, ob Sie im Zweifel bei einem denkbaren Gerichtsverfahren die
Wahrheit gesagt hätten, oder ihr Verhältnis zu Valerie Baumann Sie hätte lügen
lassen? Dieser Aspekt ist aber nichtig geworden, Monsieur Bernhard. Madame
Baumann ist tot. Sie starb vorgestern bei einem Autounfall auf der Autoroute La
Provençale .“
Vidals Worte wirkten wie ein Keulenschlag. Sekundenlang verharrte
Anselm in völliger Apathie. Nichts schien wirklich zu sein. Geräusche,
Gegenstände und Menschen verschwammen zu einem irrealen Konglomerat, dem er
sich nicht zugehörig fühlte, das sich jenseits seines Universums befand und
dessen Sinn sich ihm entzog. Dann drangen ganz langsam erste Erinnerungen an
Valeries Stimme in sein Bewusstsein – einzelne Worte, Satzfragmente, der Klang
von Betonungen. Dazu gesellten sich zögernd Bilder, Düfte, Fühlen.
Die vier vom Nebentisch starrten entsetzt auf den Ausdruck
seines Gesichts, in dem sich sein Empfinden widerspiegelte. Valerie tot? Das
schien ihm fast unmöglich zu sein. Eine absurde Gaukelei seiner Gedanken, ein
unsinniger, entsetzlicher Traum, aus dem er in wenigen Augenblicken erwachen
würde.
Seit dem Augusttag, an dem Valerie nach Köln abgeflogen
war, um ihren Mann zu beerdigen, hatten sie sich nicht mehr gesehen. Es hatte
gelegentliche kurze Telefonate zwischen ihnen gegeben, mehrere Mails und im
November hatte er noch eine SMS von ihr empfangen mit einigen traurigen, fast
wehmütigen Worten. Und nun gab es diese Valerie nicht mehr.
„Wie?“, fragte er Vidal, der geduldig an seinem Telefon
gewartet hatte. „Wie konnte das passieren?“
„Das fragen wir uns auch die ganze Zeit. Es war nachts,
trocken und praktisch menschenleer auf der Autoroute. Deshalb gibt es auch nur
sehr wenige Zeugen, und die waren alle weit von der Unfallstelle entfernt, als
es passierte.“
„Ist sie eingeschlafen?“
„Kaum. Sie ist mit irrsinniger Geschwindigkeit unterwegs
gewesen und dabei mehrmals von einem großen Audi überholt worden. Der ist dann
aber immer wieder hinter ihr
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