Grün. Le vert de la Provence
hatten. Mein geschichtliches Bewusstsein und meine politische Verortung
beginnt erst mit der Ära de Gaulle. Und in diesem Punkt wurde in meiner Familie
ein ziemlich idealisiertes Frankreichbild gepflegt. Es wurde nie etwas
hinterfragt. Ich habe nie etwas hinterfragt! Vielleicht, weil es bequem war,
die Gräuel des Krieges und des Naziregimes als etwas zu sehen, das Geschichte
war, das die Geschichte anderer war und einen selbst nichts mehr anging.
Vielleicht auch aus Feigheit, auf unangenehme Wahrheiten zu stoßen.“
„Welche?“
„Nichts Konkretes. Ich meine, auch hier im Süden sind
Juden verfolgt und deportiert worden. Soweit ich weiß, sogar bevor die
Deutschen das freie Frankreich besetzt hatten. Und Kollaboration hat es wohl
auch gegeben. Wer möchte schon hören, dass da womöglich auch eigene
Familienmitglieder drin verstrickt waren?“
Vidal schob seine Unterlippe über die Oberlippe, hob und
senkte bedächtig den Kopf und brummte ein „Mmh“. „Wir ermitteln in diese
Richtung“, sagte er schließlich. „Ihr Mann hatte Anzeigen geschaltet, in denen
er Zeitzeugen für die Wochen der Befreiung gesucht hatte. Also die Tage im
August vierundvierzig, in denen die Alliierten vom Meer aus die Deutschen
zurückgedrängt haben. Wir suchen nach Zusammenhängen zwischen den Morden. Oder
besser gesagt, zwischen den Todesfällen der vergangenen Tage. Also, Ihr Mann,
das erschossene Mädchen, der garottierte Käsehändler, jetzt die tote Mutter von
Alain und schließlich das Verschwinden von Pauline Bouchet und nun auch Ihrem
Gärtner. Man kann kaum ausschließen, dass es einen Zusammenhang gibt. Vielleicht
können Sie mir ja dabei helfen, diesen Zusammenhang zu finden? Was könnte der
Täter zum Beispiel in dem Haus von Pauline Bouchet gesucht haben? Und was hier?
Denn die Unordnung da drinnen lässt sich am ehesten damit erklären, dass etwas
sehr nachdrücklich gesucht worden ist. Könnten dass Dokumente sein, die
jemanden belasten? Zum Beispiel, über, wie Sie es ausdrückten, Verstrickungen?
Oder die möglicherweise Ihren Schwiegervater belasten? Seinen Verlag oder
irgendwelche Beziehungsgeflechte aus der Kriegszeit?“
„Ich weiß es nicht. Ehrlich! Für mich ist das eine
Beziehungsgeschichte gewesen, zwischen meinem Mann und diesem Mädchen. Und der
Umstand, dass ich auf die vermutlich idiotischste Art Witwe geworden bin, die
man sich vorstellen kann, ist immer noch irreal für mich. Ich bin völlig
verwirrt und entsetzt von den Ereignissen, die sich seitdem entwickelt haben.
Das ist alles so furchtbar.“
Anselm bemerkte zum ersten Mal, dass ihre Hände
zitterten.
Seefelders Lektüre
Christoph Seefelder las selektiv. Das Handelsblatt ,
die Financial Times , das Wall Street Journal und etliche weitere
Wirtschaftsmagazine und Zeitungen bedeckten den riesigen Arbeitstisch, der in
Aix Mittelpunkt seiner Wohnung war. Seefelders Wahrnehmung war auf
sachdienliche Informationen begrenzt, wobei sein persönlicher Vorteil die
Richtschnur für die Bedeutung von Ereignissen in der Welt der Finanzen war.
Ereignisse außerhalb dieser Welt dienten ihm lediglich dazu, bei
Geschäftsbesprechungen die belanglose Konversation zu vollziehen, die den
eigentlich relevanten Themen vorausging. Besonders die Asiaten erwarteten dies
und ihm war es ein Gräuel.
Menschen, denen er begegnete, sahen in ihm meist ein
veritables Arschloch und er akzeptierte dies. Nicht gemocht zu sein, war ein
relativ sicheres Indiz dafür, keine überflüssigen Zugeständnisse gemacht zu
haben. Ein simples Prinzip, das der rigorosen Umsetzung von Zielen
zweckdienlich war. Und Seefelder hatte klare und weitreichende Ziele. Seefelder
Biotechnology würde in den kommenden Monaten seine Marktposition im Bereich der
Life-Science-Industrie ausbauenund mit einer
Fülle von Patenten ein begehrter Partner der Pharmaindustrie werden. Noch
begehrter, als es derzeit bereits der Fall war. Eine Spitzenposition am
Weltmarkt war greifbar.
Fast alle der vor ihm liegenden Zeitungen widmeten diesen
neuerlichen Erfolgen von SBT detailreiche Hintergrundberichte. Der Fokus
richtete sich dabei auf ihn, was seinem Selbstverständnis entsprach.
Schließlich waren zahlreiche technologische Weiterentwicklungen sein Verdienst
gewesen. SBT konnte dadurch schneller, sehr viel schneller als alle anderen
Forschungseinrichtungen arbeiten und einen entscheidenden Vorsprung vor allen
Mitbewerbern und vor den forschenden Gutmenschen erreichen, die alle Ergebnisse
als Open
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