Grün. Le vert de la Provence
ragten. Der Thymian hatte alles in allem gut überstanden, auch der
Rosmarin und der Salbei. Von Estragon, Kerbel und Basilikum zeugten nur mehr
die Hinweisschilder in den Beeten, auch die Lauchgewächse befanden sich in
einem bemerkenswert jämmerlichen Zustand.
Wann würden wohl die Kolleginnen und Kollegen den Mut
aufbringen und diese Apokalypse in Augenschein nehmen? Gegen zehn Uhr? Oder
eher gegen neun, einer inneren Unruhe gehorchend, die zumindest sie selbst in
aller Frühe hierher gezogen hatte? Wann auch immer die Ersten hier auftauchen
würden, ihr blieb noch ein wenig Zeit. Sie konnte nachdenken; das Chaos im Kopf
ordnen; die Ereignisse der letzten Tage bewerten. Sie konnte in der Ruhe dieses
Morgens, in der klaren und so wunderbar würzigen Luft der Klostergärten erneut
Eds Tod und ihr eigenes Schicksal, das dadurch eine so dramatische Wendung
erfahren hatte, überdenken.
Hier, an diesem Ort, hatte alles seine Ordnung, seinen
Sinn, seine Bestimmung. Hier herrschte ein universeller Einklang. Sie müsste
nur den Weg finden, ein Teil dessen zu werden. Ihren Weg.
Sie hockte sich hin, den Rücken an einen großen tönernen
Topf gelehnt. Vor ihr verzweigte sich das Sommerbohnenkraut in dünnen, langen
Tentakeln über den sandigen Boden. Einige der filigranen Blüten hatten das
Unwetter überstanden, dort, wo die lanzenförmigen, stiellosen Blätter einen
dicht stehenden Schutz geboten hatten. Der Rest bildete einen blassrosafarbenen
Teppich auf der noch feuchten Erdkruste. Als Satureja hortensi hatte der
schwedische Naturforscher Carl von Linné das Sommerbohnenkraut in sein
Pflanzenverzeichnis eingetragen.
Pauline befand, dass es ein sperriger Begriff für diese
wunderbare Würzpflanze sei, die schon in römischen Küchen Bohnen- und
Fleischgerichte mit ihrem pfeffrigen Geschmack bereichert hatte. Sie lächelte.
Erstmalig an diesem Morgen. Dieses wunderbare Küchenkraut verminderte die
Blähungen, die sich bei Bohnengerichten unweigerlich einstellten. Eine weitere
nützliche Eigenschaft war seine sexuell stimulierende und potenzsteigernde
Wirkung. Schon der römische Dichter Ovid hatte dies lobend erwähnt und in
manchen Orten der Region bezeichnete man das Kraut, in schnöder Anbiederung an
den Zeitgeist, auch gern als „Viagra der Provence“. Dabei war es nur ein
Bestandteil unter vielen in ihrer eigenen Essenz, für deren Wirksamkeit ihr so
viele dankbar waren, und die so viel differenzierter die wundersamen, nur
wenigen vertrauten Eigenschaften der heimischen Pflanzenwelt zu nutzen wusste.
Es war vor allem der Erd-Burzeldorn, Tribulus
terrestris , der hier in dem warmen, trockenen Klima der Provence auf
karstigen Böden gedieh, dessen Extrakt ihr für die Essenz der wichtigste war.
Nicht das gewöhnliche Jochblattgewächs dieser Art des Burzeldorns, wie es die Ahnungslosen
vermuteten. Vielmehr war es eine Varietät dieser Pflanze, eine geringfügige
Abweichung von der bekannten Art, die nur selten zu finden war und deren Nutzen
sie auch aus ihrer Zeit im Ashram und aus der ayurvedischen Medizin kannte. Sie
hatte lange im schrundigen, unwegsamen Gelände der Provence nach diesen
Pflanzen gesucht, die bereits ihre Großmutter so detailreich beschrieben hatte.
Pauline sah vom Sommerbohnenkraut auf und betrachtete die
nach Osten geneigten Dächer des Klosters. Sie waren vom Morgenlicht in ein Meer
leuchtend warmer Töne von Chrom- bis Indischgelb, von Zinnober- bis
Scharlachrot und in Tupfer Gebranntes Siena getaucht.
Sie musste unbedingt in dem Tohuwabohu ihrer Gedanken die
Fragmente zusammenfügen und eine Ordnung finden. Da gab es Blitzlichter, die
unvermittelt ihr Bewusstsein querten und Farben, Formen, Düfte, Worte und
Gefühle aus dem Fundus des Vergangenen zeigten. Es war aber unmöglich, in
diesen Ausschnitten ihres Lebens einen Kontext zu erkennen oder zu
rekonstruieren. Die winzigen Inszenierungen von Ängsten, Sorgen und Hoffnungen
waren flüchtige Konstruktionen des erschöpften Gehirns.
Sie konnte keinen Weg zurück zu dem Punkt finden, an dem
sie sich befunden hatte, bevor Ed ihr begegnet war. Er hatte nach der Frau
gesucht, in die sein Vater sich verliebt hatte. Ihre Mutter. Dabei hatte er
sich in den Gedanken verrannt, in ihr seine Halbschwester entdeckt zu haben.
Aber sie war nicht Eds Schwester. Selbst, wenn der Name
Pauline seine Vermutung eine geraume Zeit genährt hatte, in der seine Idee des
Bio-Genom-Projekts und damit leider auch der Kreis von Menschen, die sich
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