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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Tüte Popcorn gefüttert hätte, Stück für Stück, und dann die Marshmallows, die wir eigentlich abends über dem Feuer rösten wollten.
    Inzwischen stiegen die Leute hinter und vor uns aus den Wagen aus – so viele, daß man kaum noch die Bären sah. Alle hatten Fotoapparate, und einige boten den Bären auch ausgefalleneres Zeug an, wie Hot dogs am Spieß oder ein Glas mit Erdnußbutter – ein Typ hielt dem Bären sogar eine Ananas hin, und obwohl ich sicher bin, daß das Tier keine Ahnung hatte, was das war, fraß es sie auf, samt der stacheligen Rinde. Da ging auch mein Vater auf unseren Bären zu – den schwarzen mit den eingebrannten Augen, der ihm kaum bis zur Hüfte reichte – und kam auf die Idee, er könnte ein Foto von ihm schießen und ihm dafür eins von uns Kindern auf den Rücken setzen.«
    »Du machst Witze«, sagte Tierwater. Sierra warf einen Blick aus dem Fenster. Sie kauerte über ihrem Teller und schlug rhythmisch die Knie gegeneinander. Sie sprach kein Wort.
    Ratchiss schüttelte nur den Kopf. »Ich war schon zu groß, also gab er die Kamera meiner Mutter und hob meine Schwester hoch. Er hatte vor, sie dem Bären, der gerade das Popcorn auf dem Boden beschnupperte, ganz kurz über die Schultern zu halten. Meine Schwester trug ein weißes Kleid mit rosa Blümchen drauf, das sieht man auf den Fotos, und eine Schleife, ich erinnere mich an eine Schleife.« Er rückte vom Tisch weg, zog an seiner Zigarette und stieß sehr langsam den Rauch aus. »Und das war’s. Mein Vater lag sechs Monate lang im Krankenhaus. Was von meiner Schwester übrig war, konnten wir nur begraben.«
    Andrea beugte sich vor, beide Hände um ihr Weinglas gelegt. »Das muß schrecklich für dich gewesen sein...«
    »Ich hab alles mit angesehen, meine Mutter schrie, mein Vater rang mit diesem knurrenden Blitz aus stinkender, primitiver Energie, meine Schwester... und ich unternahm nichts, gar nichts, stand einfach nur da... ich habe mein halbes Leben gebraucht, mir jedesmal, wenn wir am Strand oder im Schwimmbad waren und ich das entstellte Gesicht meines Vaters oder die geschwungenen weißen Narben auf seinem Rücken sah, klarzumachen, daß nicht der Bär daran schuld war.«
    »Sie ist gestorben?« fragte Sierra, aber niemand antwortete ihr.
    Nach einer angemessenen Pause, in der Ratchiss den Fleischsaft anstarrte, der auf seinem Teller koagulierte, und sie alle eine Zeitlang der Stille lauschten, die im Wald über dem Haus brütete, bewegte sich das Gespräch zu anderen Themen. Es gab Kaffee und heiße Schokolade für Sierra, dann zogen sie sich zurück ins große Wohnzimmer, um ein Scheit Holz aufs Feuer zu werfen und zuzusehen, wie die Flammen daran nagten. Irgendwann später, Andrea und Ratchiss unterhielten sich leise über Büffel mit Bauchschuß und wilde Hunde, Tierwater blätterte in seinem Emerson und Sierra hockte mit einer Zeitschrift in der Ecke, klingelte das Telefon – aber es klingelte nicht nur, es fiel in diesen Brunnen der Stille hinein, es war wie eine Explosion. Beim ersten Ton fühlte sich Tierwater, als schlüge ihm jemand mit einem Hammer auf den Hinterkopf; beim zweiten Klingeln wollte er am liebsten aufspringen und das Kabel aus der Wand reißen. Er war nervös, und das war kein Wunder. Jeden Moment konnten sie ihn holen kommen.
    Ratchiss nahm ab. »Ja?« sagte er. »Ah, hallo. Reden gerade über dich. Mm-hmm. Mm-hmm.« Er stülpte die Hand über das Mundstück. »Das ist Teo, ruft von ner Zelle aus an. Neuer Plan: er kommt schon morgen rauf. Er läßt fragen, ob ihr irgendwas...«
    Tierwater schüttelte nur den Kopf, aber Sierra sprang auf und warf ihre Zeitschrift weg. »Sag ihm, ich will Zeitschriften, Bücher, Videospiele, sonstwas«, sagte sie und ging auf Ratchiss los, als wollte sie ihm den Hörer entreißen. »Sag ihm, ich will Freunde. Sag ihm, hier ist es langweilig, langweilig, langweilig.«
    »Ja«, raunte Ratchiss in das Telefon. »Mm-hmm, okay.« Dann stülpte er wieder die Hand über den Hörer und legte ihn vorsichtig auf die Gabel.
    Sierra stand hilflos mitten im Zimmer, die Hände erwartungsvoll ausgestreckt. Sie zog eine Grimasse, und Tierwater sah die Lichtreflexe auf ihrer Zahnspange – da hatten sie gleich das nächste Problem: der Kieferorthopäde. Wie sollte er dem erklären, daß zwar irgend jemand diese Drahtkonstruktion für Sierras Zähne hergestellt hatte und detaillierte Aufzeichnungen darüber besaß, leider jedoch weder sein Name noch diese Aufzeichnungen

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