Grün war die Hoffnung
– ›Junge‹, was red ich? Der muß um die fünfundvierzig sein –, und der ist ein großer Pulchris-Fan, war auf allen Konzerten damals, hat sich alle Songs aus dem Netz runtergeladen und so weiter...«
Ich grinse. »Und er hat Hühner.«
»Geld wollte er keins haben, aber April hat ihm ein paar alte Tournee-T-Shirts gegeben – mit Macs Erlaubnis natürlich.«
»Wie nützlich doch die Vergangenheit ist«, sage ich, und dann hake ich mich bei Andrea unter, und wir stapfen über das Gelände zurück zum Haus, in Sonnenschein gebadet.
Ich weiß noch, daß in dem Winter, als Sierra auf ihren Baum geklettert ist, die Sonne nicht allzuoft schien. In dem Jahr damals tobte sich El Niño wirklich aus: ein Sturm nach dem anderen fegte über die Küste, überschwemmte die Flüsse und unterspülte die Straßen, Erdrutsche, Riesenwellen, Scheibenwischerverschleiß, tropf-tropf-tropf, und alle waren so deprimiert wie die Schweden. Niemand hatte daran Freude – außer vielleicht die Surfer. Und Coast Lumber. Coast Lumber fand das Wetter herrlich. Bei Coast Lumber wäre man kaum erfreuter gewesen, wenn man es bestellt hätte. Eine Baumschützerin namens Sierra Tierwater, einundzwanzig Jahre alt und vollkommen unbekannt – die Tochter eines Niemands, garantiert –, war unbefugt in ihren Privatbesitz eingedrungen, hatte einen der großen alten Redwoods besetzt, und nun wartete die Presse darauf, daß die Firma ein paar ihrer Gorillas auf den Baum schickte, um sie herunterzuzerren, so brutal wie möglich. Aber das würden sie nicht tun. Wozu der Aufwand? Warum sich mit ihr abgeben? Sie brauchten sich ja nur in ihren getäfelten Büros bequem zurückzulehnen und sie dem Wetter zu überlassen. Und dann, heimlich, still und leise, während die Öko-Freaks und Fossilien-Fans in ihren Wohnungen hockten und zusahen, wie der Regen an den Fenstern herunterrann, konnten sie den Baum umhacken und alle übrigen auch, damit hätten die Proteste ein für allemal ein Ende.
In jener ersten Nacht, als ich hinauffuhr, um ihr bei dem Unwetter beizustehen, war ich so desorientiert, daß ich sie nicht mal gefunden hätte, wenn sie mir mitten im Wald an der Kasse eines hellerleuchteten Supermarkts erschienen wäre. So konnte ich nur meinen persönlichen Leidensquotienten erhöhen, wieder einmal eine dunkle Nacht der Seele durchleben, von Angesicht zu Angesicht mit meiner eigenen Angst und meinen verlorenen Hoffnungen. Betrunken stolperte ich in diesem Friedhof der Bäume herum, während der Wind heulte und Äste niederstürzten. Ich weiß nicht, wie lange ich da draußen war, aber es war eine Erlösung, als ich endlich mein Auto wiederfand, obwohl es bis zur Karosserie im Schlamm steckte und hoffnungslos festsaß. Mein Kopf schmerzte rasend, meine Kehle war so trocken, als hätte sie jemand die ganze Nacht hindurch mit einem Bandschleifer bearbeitet, und ich war bis auf die Haut durchnäßt. Mir war schwindlig. Und übel. Es schüttelte mich vor Kälte. Ich zog mir die Sachen aus, Socken wie nasse Fische, Unterwäsche wie etwas, mit dem man Toiletten ausgewischt hatte, und dann, mit dem Gedanken Sierra, Sierra im Kopf, kroch ich in Andreas Mumienschlafsack und war im nächsten Moment eingeschlafen.
Der Morgen war nicht viel anders als die vergangene Nacht. Der Regen fiel ohne Grund und ohne böse Absicht, irgendwo in der Nähe rauschte ein unsichtbarer Bach, der Wagen sank noch tiefer in den Schlamm. Eine quantitative Änderung des Lichtes mochte eingetreten sein, das allmähliche Einsickern von Sichtbarkeit in die Düsternis, doch viel war es nicht. Ich streifte kalte nasse Socken, nasse Jeans, nasse Stiefel, das nasse T-Shirt, den nassen Pulli und den nassen Anorak über und zog los, meine Tochter zu suchen. Diesmal lief ich geradewegs zu ihrem Baum.
Es wuchsen acht Redwoods in ihrem Waldstück, zwei davon waren an der Basis zusammengewachsen und geschwärzt von einem alten Feuer, das auch den Stamm ihres Baums lädiert hatte, und der Wald aus Flußzedern, Tannen, Ponderosa- und anderen Kiefern war ein Labyrinth von Stämmen, das sich über die Hügel ausbreitete. Außer im Westen, wo die Haut der Erde durchschien und nichts mehr zu sehen war als Astwerk und Stümpfe, so weit das Auge reichte. Dieses Waldstück war als nächstes dran, und meine Tochter – falls sie noch lebte und nicht nur ein Haufen aus zerfetztem Fleisch und gebrochenen Knochen war, aus den Bäumen geschleudert wie ein Wasserballon – war entschlossen, diese
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