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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Entweihung zu verhindern. Dafür war ich stolz auf sie, aber auch besorgt. Ich hatte Angst um sie. Ich drückte mich an den nassen dunklen Stamm und sah nach oben – ihre Plattform, die dunkle Sperrholzplatte war noch da, mit Nylonseilen an zwei massiven Ästen festgezurrt. Ich stieß mich vom Baum weg, um einen besseren Blickwinkel zu haben, blinzelte gegen den fallenden Regen, und dann sah ich das grelle Orange ihres Zeltes im Wind wabern wie eine Welle auf ungestümer See. Sie war da. Sie lebte. »Sierra!« schrie ich, die Hände an den Mund gelegt.
    Eine Sturmbö schüttelte die Wipfel, und Sierras Baum erbebte, daß ich es in den Füßen spürte. Ich sah auf, und da war sie, ihr Gesicht ein ferner, kleiner weißer Fleck in einem Gewirr peitschender grüner Nadeln. Und dann erklang ihre Stimme, vom Wind verweht und vom Regen getrieben, segelte sie herunter wie ein Blatt: »Dad?« rief sie. »Dad!«
    Mir brach das Herz, aber sie grinste, sie grinste wirklich, wenn ich das richtig sah – und schon damals waren meine Augen nicht gerade berühmt. »Sierra!« rief ich und fühlte mich, als wäre mein Innerstes nach außen gekehrt. Ich wollte nicht, daß sie da oben war. Ich wollte bei ihr da oben sein. Ich wollte Bomben auf Coast Lumber werfen, ihre Schwermaschinen lahmlegen, ihre Aktionäre erwürgen. »Liebes?« rief ich mit überschnappender Stimme. »Willst du nicht runterkommen?«
    Es schien eine Stunde zu dauern, bis ihre Antwort den weiten Weg zu mir herabdrang, der Baum ächzte, der Regen prasselte, mein Herz war wie ein Stahlbolzen in der Tiefe meiner Kehle, doch die Antwort hieß nein. »Nein!« brüllte sie, die schmalen weißen Hände ebenfalls an den Mund gelegt, damit es eindringlicher klang. »Nein!« Die Botschaft fiel zusammen mit dem Regen auf mich.
    Ich war ihr Vater. Ich kannte ihr Wesen, hörte die Entschlossenheit in ihrer Stimme, den Fanatismus: sie würde nicht herunterkommen, heute jedenfalls nicht, und Streiten hätte keinen Zweck. »Morgen vielleicht?« rief ich mit verspanntem Nacken, weil ich den Kopf so weit zurücklegen mußte, um zu ihr hochzusehen. »Wenigstens bis der Regen aufhört? Du kannst ja jederzeit zurück – wenn das Wetter besser ist!«
    Wieder schwebte die Antwort herab, diesmal in einem langgezogenen Blöken des Protests: »Neiiiiiin!«
    Na schön. Aber brauchte sie irgend etwas? »Brauchst du irgend etwas?« rief ich.
    Der Regen lief mir den Rücken hinunter. Ich zitterte krampfhaft. Meine Kehle brannte. Der Kopf tat mir weh. Mit der Zeit würde sie alles mögliche brauchen: ein chemisches Klo, Bücher, Zeitschriften, Zeichenmaterial, ein Mobiltelefon, Brennstoff für ihren Campingkocher, ein Spezialgeschirr, damit sie sich auf zehnMeter abseilen konnte wie eine große bleiche Spinne, um die endlosen Presseinterviews zu geben, die ihr Kreuzzug mit sich bringen würde. Heute aber, am ersten Morgen ihres Daseins als Baumlebewesen, als Kuriosität der Evolution, ein fortpflanzungsreifes Homosapiens-Weibchen, dessen Füße niemals den Erdboden berührten und dessen biologischer Imperativ warten mußte, brauchte sie gar nichts. Bis auf einen Gefallen. »Tust du mir einen Gefallen?« rief die verschwommene weiße Fahne ihres Gesichts.
    »Ja doch«, schrie ich, wobei ich mir den Nacken massierte und ein Stück zurücktrat, um aus einem weniger schmerzhaften Winkel hinaufzustarren. »Sicher. Was du willst!«
    »Nimm die hier mit«, rief sie, und plötzlich segelten zwei Objekte, oval, hellgrau mit weißen Streifen, aus dem Baum herab. Ich brauchte eine Weile, um sie zu identifizieren, auch als sie nacheinander einen halben Meter von mir entfernt auf dem Waldboden gelandet waren. Dumpf schlug das erste der Dinger auf, dann das zweite, der Aufprall hatte etwas Endgültiges. Es waren ihre Schuhe. Ihre Laufschuhe, Wanderschuhe, Schuhe zum Gehen, Atmen und Leben, ihre Verbindung mit der Erde. Aber an jenem ersten Morgen warf sie sie zu mir herunter, denn sie brauchte sie nicht, brauchte sie nie mehr.
    Eier. So ein schlichtes Nahrungsmittel, von der Sorte, wie wir sie für selbstverständlich hielten, die Hauptstütze jeder Frühstücksklitsche in jeder Stadt Amerikas, als Rührei, weichgekocht oder als Spiegelei mit saftigen Fritten dazu. Ich bin mit Eiern aufgewachsen, damals bevor uns klar wurde, was sie in den Arterien anrichten, und auch meine Tochter ist mit ihnen aufgewachsen, weil sie einfach irgendwie Eiweiß zu sich nehmen mußte. Aber wie gesagt, chez Pulchris waren die

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