Grün war die Hoffnung
soeben erwacht, steckte die Rest des zweiten Hot dogs in den Mund und strich sich mit den Handflächen die Haare nach hinten. Er war siebenunddreißig. Sein Bart zeigte ein wenig Grau. Seine Zehen waren so verwachsen, daß sie aussahen wie künstlich aufgepfropft. »Wie wir jetzt weitermachen?« echote er. »Wir werden eine Versammlung abhalten, so machen wir weiter.«
14
Diese Versammlung war überhaupt nicht wie die erste. Der Tag hatte richtiggehend die Puste verloren, es war ein schleichendes Entweichen der Energien gewesen, so ermüdend, daß man nicht einmal darüber nachdenken mochte, und als Norm die Versammlung einberief, hatte sich die halbe Einwohnerschaft von Drop City längst hingeknallt und pennte. Die Leute lagen auf Sofas, stockfleckigen Matratzen, Schlafsäcken, Bündeln von Kiefernzweigen und Autorücksitzen und erholten sich von der Nachwirkung des gleichzeitigen Öffnens sämtlicher Pforten der Wahrnehmung. Auch Star schlief, das Gesicht auf der sanft atmenden Wölbung von Marcos Brustkorb, als Verbie ins Baumhaus hinaufgeklettert kam und ihnen sagte, sie müßten aufstehen, es sei ein Notfall eingetreten, und alle – alle ohne Ausnahme – sollten innerhalb von fünfzehn Minuten im Versammlungsraum sein.
Star wußte nicht, was sie denken sollte. Sie war im Baumhaus, mit Marco, und sie hatte geschlafen – soviel war klar. Alles übrige war ein Chaos. Es kam ihr vor wie mitten in der Nacht, aber draußen war es hell, und sie hätte unmöglich sagen können, ob es die Morgen- oder die Abenddämmerung war. Das Licht flutete grau und dicht wie Wasser, und die Zweige der Eiche trieben darin wie das feine Gerüst eines Traums. Der Baum gab einen galligen Geruch von sich, beißend und scharf, Vögel landeten auf den Ästen wie dunkle geworfene Steine. Marco schlief weiter. Sie fand ihre Unterhose und die Shorts nicht, und irgend etwas schien sie gestochen zu haben, denn eine Perlenschnur aus Pusteln zog sich über ihren Unterleib und verschwand zwischen den Brüsten. Wo waren ihre Schuhe? Sie setzte sich auf und sah in die Gegend.
Plötzlich hatte sie Angst. Notfall? Was denn für ein Notfall? Da stieg vor ihr das Bild des kleinen Jungen auf – Che –, die strubbligen Haare naß und verklebt, seine Haut in der Farbe von Olivenöl, das in der Pfanne kalt geworden war, und die Augen tief in die Höhlen zurückgetreten, als wollten sie sich für immer dort verstecken, und dann dachte sie an den Druck seiner kalten Lippen auf ihren – wie zwei kopulierende Regenwürmer hatte sich das angefühlt –, aber war das nicht alles längst erledigt? Hatte sie Che nicht gerettet? Den Tag gerettet?
Es war nicht Morgen. Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Es war die Abenddämmerung, jetzt wußte sie es. Sie schmeckte es in der Luft, hörte es an der Art, wie die Vögel keckerten und zeterten. Es war Mittsommer, der längste Tag des Jahres, und auch der schlimmste, bei weitem der schlimmste – und er ging immer noch weiter. Marco lag neben ihr, sein Haar war über dem Gesicht verteilt, die rechte Faust hielt er vor der Schläfe geballt, wie um einen Schlag abzuwehren. Sie hörte ihm eine Zeitlang beim Atmen zu, fasziniert von dem stetigen, sicheren Rhythmus – auseinander, zusammen, wieder auseinander –, dann rüttelte sie ihn wach.
»Was?« sagte er und stützte sich auf den Ellenbogen, so daß sie ihn in seiner ganzen Pracht bewundern konnte.
»Norm läßt uns holen. Irgendein Notfall. Er hat eine Versammlung einberufen ...«
»Notfall? Jetzt? Wie spät ist es denn?«
»Etwa neun oder so – keine Ahnung. Erst dachte ich, es wäre schon Morgen.«
»Was denn bloß für ein Notfall – ist die Pumpe für den Brunnen heißgelaufen oder so? Oder laß mich raten: Reba sind schon wieder ihre Gören weggerannt. Könnte aber auch was mit Pan sein. Ist der vielleicht in sein Würstchenfeuer gefallen und hat sich die Ohren versengt?«
»Verbie hat nichts gesagt. Aber sie klang total ausgeflippt.«
»So klingt die doch immer.«
Er griff nach ihr, wollte sie zurück zu sich in den Schlafsack ziehen, aber sie schob seine Hand weg. »Ich hab Angst«, sagte sie. »Nach heute nachmittag ... Die Kinder, das Pferd, weißt du? Das alles. Wir haben die Kontrolle verloren, Marco – hier sind alle total außer Kontrolle.«
»Allerdings«, sagte er, und sein Lächeln war dabei so fein, daß man es kaum sah. »Aber geht es nicht genau darum?«
Das große Haus war strahlend erleuchtet vom Licht des
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