Grün war die Hoffnung
selbst in Hochform, keineswegs verärgert, und die Nacht war ja noch jung, immer noch jung. »Nein, das tun sie wohl nicht.«
Und dann kam Iron Steve, mit geduckten Schultern und gesenktem Kopf, wie um besser aufnehmen zu können, was die kleine Frau mit der Zahnlücke ihm anzuvertrauen hatte – »O ja«, sagte er gerade, »und wie das hier kalt wird, du liebe Scheiße.« Sess hatte plötzlich ein frisches Bier in der Hand, während er Pamela dabei half, sich in die Rucksackriemen zu schlängeln.
Überbringer des Biers war der Neffe, der mit seiner geflickten Brille und dem golden aufblitzenden Gebiß vor ihm stand, zwischen den Knöcheln zwei weitere Bierflaschen, von denen er eine an Pamela weiterreichte; die andere behielt er selbst und nahm gleich einen ordentlichen Schluck daraus, bis der Schaum ihm in den Bart kleckerte. »Weißt du was?« sagte er, ließ die Flasche wieder sinken und grinste breit. »Mir gefällt dein Musikgeschmack.«
Sess erwiderte das Grinsen, dann ging er in die Knie, damit ihm Pamela mit seinem Rucksack helfen konnte. »Na ja, und wegen Lynette – das dürft ihr ihr nicht übelnehmen. Sie ist neu hier. Kommt aus Seattle. Da ist ihr wohl irgendeine Laus über die Leber gelaufen.«
»War doch ein Riesenspaß«, sagte der Neffe und wühlte sich im Bart, als hätte er dort etwas verloren. »Wie oft haben wir das Ding gespielt – so an die fünfzigmal? Aber hört mal zu, das mit der Einladung hab ich ernst gemeint – die Bräute kochen innerhalb einer Stunde was Leckeres zusammen, das garantier ich euch, und, na ja, wißt ihr, es war einfach eine echt lange, harte Reise und so, und deshalb müssen wir heute abend auf den Putz hauen und eine zeremonielle Superfete abgehen lassen. Nichts Besonderes – Linsensuppe, Reis und Gemüse. Und Wein. Wunderbarer Rotwein.« Er nahm noch einen Zug von seinem Bier und blickte ins Zwielicht der Bäume.
»Wollt ihr heute hier übernachten?«
Der Neffe zuckte die Achseln. Seine Schultern waren in dem offenen Overall nackt, behaart und von Moskitostichen übersät. »Sicher doch. Wieso nicht?«
»Aber Roys Hütte ...« Sess zögerte. Wie konnte er ihm auch nur ansatzweise die Komplexität des Lebens hier vermitteln: in dem so lange herrenlosen Blockhaus würden allenfalls fünf oder sechs Personen Platz finden, der tückische Yukon River mit seinen Massen an Schlick konnte einem im Handumdrehen die Klamotten bleischwer machen und einen in die Tiefe reißen, wenn man ihm auch nur die klitzekleinste Chance gab, und es fehlten einfach die primitivsten Annehmlichkeiten. Was wollten denn all diese Leute essen? Wo würden sie ihre rosa Lippenstifte herbekommen, woher das Make-up, den Rotwein, ihre Aufputschmittel und Beruhigungsmittel und ihr Gras und was sie sonst noch nahmen? Und wollte er überhaupt Nachbarn haben, über dreißig gleich, die praktisch in Rufweite seiner Fallenstrecke am Fluß lebten?
»Das ist ziemlich weit«, bemerkte Pamela. »Mindestens drei Stunden von hier, im Kanu.«
Der Neffe reckte das Kinn und ließ es wieder sinken. Seine Hand erinnerte an eine große umherflatternde Motte, als er jetzt das Bier an die Lippen hob. »Oh, ich bin informiert, keine Sorge«, sagte er. »Ich weiß noch, wo das ist, obwohl es doch immerhin schon – Scheiße, Mann – zwanzig Jahre her ist. O Mann, zwanzig Jahre , ist das zu fassen?« Er lachte leise, die bleichen Schultern wackelten unter einer mächtigen Fettschicht, und der heruntergerutschte rechte Träger seines Overalls legte eine dreifarbige Tätowierung frei – irgendeine Zeichentrickfigur, aber welche? Walt Disney jedenfalls. Ein x-beiniges Rehkitz mit übergroßen Augen. Das Bild rauschte mitten aus der Kindheit auf Sess ein: seine Mutter im rosa Kleid, die Schwester mit der Hand tief in einer Schachtel mit extra gebuttertem Popcorn – Bambi. Der Mann trug Bambi auf der Schulter eintätowiert. So etwas hatte Sess noch nie gesehen. Er kannte Anker, Dolche, Totenschädel, von Pfeilen durchbohrte, bluttriefende Herzen, blaßblaue Namenszüge von Ehefrauen, Geliebten und Exgeliebten, einen Adler mit einem Fisch in den Klauen – aber Bambi ?
»Ich bin ja kein Greenhorn«, sagte der Neffe, »und ich kann dir sagen, daß ich zumindest ein Fünkchen Ahnung von diesem Land hier habe, weil ich nämlich als Kind immerhin drei Sommer und beinahe zwei Winter bei meinem Onkel verbracht habe – was natürlich keinesfalls bedeuten soll, daß ich nicht noch eine Menge zu lernen hätte, Mann, ja?
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