Grün war die Hoffnung
die dünne Schneeschicht über dem Eis zermalmten, einen Fuß vor den anderen, sechs Kilometer waren ja nicht mehr als ein Spaziergang im Park, und ihm war auch nicht kalt, nicht im geringsten.
Das Geheimnis der Entfernungen hatte ihm Sess Harder einmal verklickert, damals, als er sich noch in der Nähe von Sess’ Haus sehen lassen konnte – was inzwischen nicht mehr der Fall war, seit er mit Pamelas Fünfer Dope gekauft hatte, aber hey, tant pis , wie der Franzose sagte. Der Wind ließ nach, und da war der Mond. Und was er nie kapiert hatte: Wieso hieß dieser Fluß nur Thirtymile – sollten es dann nicht dreißig Meilen, fünfzig Kilometer, von Boynton bis zur Mündung in den Yukon sein? Sess war beschäftigt gewesen, immer in Action, der Mann, beim Flicken des Geschirrs für sein Hundegespann, und Pan hatte bei ihm rumgehangen, ein nachbarschaftliches Bier in der einen Hand und was zum Rauchen in der anderen, während Sess in seinem gemächlichen Tonfall die mathematischen Hintergründe erläutert hatte: »Die Distanzen berechnen sich hier alle in Meilen ab Dawson, im Yukon Territory«, hatte er begonnen. »Ursprünglich sind nämlich die ersten Siedler von dort aus den Fluß runter hierhergekommen, deshalb hast du den Fortymile River im Südosten von Eagle Village und den Seventymile weiter nördlich davon, und dann war es wohl so, daß niemand einen Fluß den Hundredmile nennen wollte – klang vielleicht unheimlich, so eine hohe Zahl –, also haben sie den hier einfach den Thirtymile genannt, weil er rund dreißig Meilen vom Seventymile in den Yukon mündet. Alles klar jetzt?«
Nein, überhaupt nicht. Er hatte es nicht kapiert. Ebensogut hätten das Ding Waschzuberfluß oder Dinosaurierstrom oder Ananasbach heißen können, oder vielleicht sollten sie ihn nach der Mutter von Jimi Hendrix umbenennen – genau, dafür würde er eine Unterschriftenliste starten, sobald er wieder zurück in der Zivilisation war. So ging es immer weiter, eine Abfolge zunehmend alberner Namen zuckte ihm durch den Kopf, während die Stille, die Unermeßlichkeit des Flusses und der schattengefleckten Hügel und der Mond, der Mond , ihn zutiefst beeindruckten – es war Halloween, war das nicht irre? –, und er hatte sich noch nie im Leben so eins mit der Natur gefühlt. An der Mündung des Thirtymile hielt er sich wieder nach rechts, ohne mehr darüber nachzudenken, als wenn er von der MacDougal in die Bleecker Street eingebogen wäre, und als er am Blockhaus von Sess Harder vorbeikam, das sich auf der Böschung hell vor den dunklen Bäumen abhob und von dem der Geruch nach Holzrauch herüberwehte wie eine Verheißung, marschierte er einfach weiter.
Wie durch ein Wunder schlugen Sess’ Hunde nicht an. Wenn er sich darauf konzentrierte, die einzelnen Schatten auseinanderzuhalten, erkannte er die Reihe der Hundehütten, die hinten rings um die Knöchel der Bäume gruppiert waren, aber dort rührte sich überhaupt nichts, nicht das leiseste Scheppern der Stahlketten oder ein Rascheln von gezaustem Fell, kein einziges Geräusch außer dem Brausen des Windes in seinen Ohren. Die Hunde lagen alle schlafend da, die Nase in den Schwanz gerollt, und atmeten ruhig in der Stille der Nacht. Sie lebten hier, gehörten hierher, genau wie er, genau wie Pan. Er stapfte weiter, und vielleicht hatte er etwas taube Zehen – seine Stiefel waren nicht die besten –, aber er hatte so etwas durchaus schon erlebt, damals in New York. Möglicherweise war’s hier ein bißchen kälter, aber nicht viel. Er erinnerte sich an minus zwanzig, minus fünfundzwanzig Grad, als er noch ein Kind war, auf der Innenseite der Fenster hatte das Eis Muster aus einander überlagernden Kristallsternen gebildet, und sein Vater trat wütend gegen die Fahrertür des Studebaker, weil die Karre einfach nicht ansprang, sosehr er sie auch beschwatzte und ihr den metallisch-süßlichen Äther in den Vergaser spritzte. Sein Vater. Das Bild hielt sich nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann verschwand es wieder, ein verblassender Kader im Projektor seines Gehirns. Er marschierte. Dachte an nichts. Der Mond – der Erntemond, der Halloween-Mond – wies ihm den Weg.
Als erstes kündigte sich Drop City durch den Geruch nach Rauch an, der die Nachtluft durchzog, dann mit ein paar Lichtern, aber so blaß und kümmerlich, daß er gar nicht sicher war, sie zu sehen, bis er die Böschung erklommen hatte und auf der Anhöhe stand, auf der die fünf Blockhütten einen Halbkreis
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