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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Eine Minute, eine von einer Million – einer Milliarde – Minuten verrann.
    »Scheiße, was weiß ich«, sagte Joe.
    Pan meldete sich vom Bett am Ofen: »Hey, Leute, ich störe ja nur ungern, aber wißt ihr eigentlich, was für ein Tag heute ist? Es ist Halloween.«
    Alle drei starrten ihn ungerührt an. Der Ofen seufzte und zog Luft. Es war im Blockhaus so trocken wie im Zentrum der Atacama-Wüste. Schließlich beugte sich Joe Bosky vor, um auf den Boden zu spucken. »Und, was soll ich da unternehmen?« fragte er. »Soll ich ’ne Perücke aufsetzen und mich als Hippie verkleiden? Oder vielleicht als Frau – würde das funktionieren?«
    Aber Ronnie antwortete nicht – er war inzwischen ganz woanders, fühlte sich jählings verpflanzt ins letzte Halloween, nach Peterskill an die Ufer des braven Hudson, an einen Ort, wo es Geschäfte und Kneipen und Discos und Kifferläden gab und wo man jede Sorte Dope bekam, ob es nun Tag oder Nacht war, ebenso Klamotten, Schallplatten, Steaks, chinesisch, italienisch, Donuts, Kentucky Fried Chicken, an die Stelle, an der er seinen ersten Totalschaden hatte, und in die Straße, in der seine Eltern wohnten. Und seine Freunde. Seine Kumpel. Die Leute, mit denen er aufgewachsen war. Er verspürte auf einmal ein derartiges Heimweh, fühlte sich so verloren und ausgehöhlt, daß er sich aufs Brustbein klopfen mußte, um nicht das Elch-Chili auszukotzen, das sie schon seit drei Tagen aus dem Kochtopf löffelten. Eine säuerliche Kugel stieg ihm in der Kehle auf, der brennende Geschmack des Exils, und trieb ihm die Tränen in die Augen. Er und Star hatten damals wirklich einen draufgemacht. Sie waren voll in Fahrt, auf dem reinsten Triumphzug waren sie. Zwei total riesige Superpartys, und danach waren sie noch in einem Club mit Livemusik gewesen, sie hatte sich als Katze verkleidet, in einem Trikot mit Samtbesatz, das an den richtigen Stellen knalleng anlag, und mit aufgemalten Schnurrhaaren, die er ihr längst abgeleckt hatte, als die Nacht zu Ende ging, und sie war keineswegs die einzige – alle Bräute waren als Sexmiezen oder Füchslein oder Vampire aufgetakelt, stellten ihre Brüste und Beine und alles andere auch zur Schau. Er fragte sich, ob eigentlich schon mal irgendwer, ein Soziologe oder so, darüber geforscht hatte, denn Bräute verkleideten sich unweigerlich als jedermanns erotische Phantasien, während die Freaks immer eher ins Absurde tendierten. Und was lernte man daraus? Daß die Männer gern herumhingen, was kifften und Partys feierten, während die Frauen – die Weibchen, die Bräute –, die wollten besabbert werden, die verlangten Verehrung .
    Ronnie war damals als Pan gegangen, mit waldbraun gefärbten Teufelshörnern aus dem Kostümfundus, einer Panflöte, die er unter einem Haufen Gerümpel im Musikraum ihrer alten Highschool gefunden hatte, und den mit langen Haaren besetzten Leggins, die ihm seine Mutter auf der Nähmaschine gemacht hatte, und für solche Sachen war sie echt gut, seine Mutter. Und so absurd war es auch wieder nicht, ganz und gar nicht. Eher schon cool. Aus dem Nichts waren mehrere Leute auf ihn zugekommen, um ihn zu beglückwünschen, und wenn er auch nicht den Preis für die beste Verkleidung gewann – irgendein Arschloch mit einer Spiro-Agnew-Maske sahnte den Hauptgewinn ab, eine echte, ein Meter hohe Wasserpfeife, die Alex, der Clubbesitzer, aus Marrakesch mitgebracht hatte –, so war ihm das egal. Das war die Nacht, in der er Ronnie hinter sich gelassen hatte, die Nacht, in der er für immer Pan geworden war. Die Erinnerung daran ließ ihn vom Bett aufstehen, und er fing an, sich die Felleinlagen in die Stiefel zu schieben, doppelte Socken überzustreifen, die Stiefel zuzuschnüren und Schicht um Schicht Kleidung anzuziehen.
    »Gehst’n hin, Mann?« wollte Sky Dog wissen. »Um Süßigkeiten betteln?«
    Es waren zwölf Kilometer bis nach Boynton, die man jetzt auf der breiten Straße des Flusses zu Fuß gehen konnte, und sechs bis Drop City. Zwölf sind zwei mal sechs, dachte er sich draußen in der Dunkelheit und der Kälte, die seinen Atem wie eine Dampfmaschine fauchen ließ, und deshalb wandte er sich nach rechts, als er den Yukon erreicht hatte, und ging in nordöstliche Richtung. Dabei dachte er an Star. Auf Drop City würden sie heute abend garantiert feiern, keine Frage – Halloween, das Fest der Verrückten. Norm würde die Sau rauslassen. Wenn irgendwer, dann Norm. Ronnie hörte das Knirschen und Knacken seiner Schritte, die

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