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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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keiner sie sehen konnte? Und Anise – sie war auf dem College gewesen, aber manchmal wundert er sich über die Lücken, die klaffenden Abgründe in ihrer Allgemeinbildung – fragte: »Paladin? Was ist ein Paladin?«
    Als der nächste Morgen anbricht, ist der Himmel über dem Meer klar, der Nebel hängt in weißen Fetzen an den Schultern der Inseln, das Meer ist ruhig, der Wind schwach, auch wenn der Wetterbericht warnt, dass im Verlauf des Tages ein neues Tiefdrucksystem von Norden heranzieht. Das wird sie vielleicht betreffen, vielleicht aber auch nicht – es kommt ganz darauf an, wie lange diese Aktion dauern wird. Oder ob jemand versucht, sie aufzuhalten, was ja immer geschehen kann. Anise schläft in der Bugkoje, der Rhythmus ihres Atems wird von einem leisen, rasselnden Gurgeln tief in der Kehle akzentuiert, einem Schnarchen, das sich gelegentlich über das Brummen des Motors erhebt und wieder verebbt. Wilson, der Mann, der immer und überall schlafen kann, liegt bäuchlings auf der Couch, eine Decke über den Kopf gezogen. Es gibt frischen Kaffee für jeden, der will, und Anise hat Sandwiches gemacht und in den Kühlschrank gelegt. Auf dem Tisch sind drei Plastiktüten und drei Rucksäcke für den Transport. Er hat das Funkgerät ausgeschaltet, die Stille ist ihm lieber. Er nippt an seinem Kaffee und sieht über das Meer. Das Boot liegt ruhig im Wasser, die Oberfläche ist kaum gekräuselt.
    Wilsons Freundin – sie heißt Alicia Penner und fährt fünfmal die Woche den ganzen Weg von Goleta nach Ventura, weil sie als Sekretärin beim National Park Service am Harbor Drive im Yachthafen arbeitet, wo die Sonne durch die Fenster scheint und die NPS-Bürokraten mit Papier rascheln und den ganzen Tag überlegen, was sie als nächstes töten könnten –, Wilsons Freundin also hat, in ihrer bescheidenen Nebenrolle als Freundin der Tiere, den Tag herausgefunden, an dem das Gift abgeworfen werden soll. Dieser Termin wird nämlich nicht öffentlich gemacht. Trotz all der Vorträge und Diskussionsveranstaltungen interessieren sich diese Leute gar nicht für das, was die Öffentlichkeit dazu sagt, und ganz bestimmt wollen sie nicht gestört werden, nicht im Museum, nicht auf dem Parkplatz und ganz besonders nicht am Ort des Schlachtens, da draußen, jenseits des Bauchs aus grauen, plätschernden Wellen.
    Es ist der Tag vor Thanksgiving, ein Tag, an dem alle nur an Truthahn mit Kastanienfüllung und Football und Champagner denken und die Inseln, sofern sie überhaupt wahrgenommen werden, nichts als ein verschwommener Fleck im Dunst sind. Während die Leute bei Von’s und Ralph’s und im Lacy Acres Market Schlange stehen, während sie blaumachen, um in Bars einen zu heben, während sie zum Flughafen fahren, um Grandma und Tante Leona abzuholen, während sie Truthähne, Gänse, Enten in die Röhre schieben, will sich der Park Service zunächst Ost-Anacapa vornehmen, und zwei Wochen später, wenn dieselben Leute mit Weihnachtseinkäufen und der Planung der Betriebsweihnachtsfeier beschäftigt sind, sollen die mittlere und die westliche Insel bombardiert werden. Geheimhaltung. Abschirmung. Aus den Augen, aus dem Sinn. Dabei haben diese Sesselfurzer aber nicht bedacht, dass manche Leute eben weder Truthähne noch Gänse oder Enten oder sonst irgendein Fleisch essen, denn Fleisch ist Mord, und jedes Lebewesen besitzt einen Lebensgeist und hat ebensoviel Recht zu leben wie die Menschen, die ihm das Leben nehmen, die es schlachten und in ihre großen gierigen Mäuler stopfen und die Knochen in den Abfall werfen, als hätte es das Ding, dem sie gehörten, nie gegeben. Und diese Leute geben acht. Sie geben sehr gut acht.
    Als die Insel aus dem Dunst hervortritt und sich, etwa fünfzehn Minuten entfernt, über den südlichen Horizont ausbreitet, stoppt er den Motor und geht hinunter in die Kajüte, um Anise zu wecken. Sie schläft immer tief, liegt wie hingegossen da, so komatös, als hätte man sie mit einem Hammer niedergeschlagen, und er beugt sich behutsam zu ihr, streicht ihr das Haar aus dem Gesicht und küsst sie auf den Mundwinkel. Ihre Lippen sind leicht geöffnet, die Lider geschlossen und mit einem zarten Lidstrich versehen. In diesem Augenblick umfängt ihn ihre Wärme, eine starke, aufsteigende Aura von Fleisch und Flüssigkeiten, der leise Duft ihres Parfüms und des Jojoba-Shampoos, das sie benutzt, ihr Atem ist süß und feucht und schwer von Schlaf. »He«, flüstert er, »Anck-Su-Namun, wach auf, Imhotep ist

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