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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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high von diesem Moment. Und dieses Gefühl erfüllt sie für volle dreißig Sekunden – bis sie auf ihre Uhr sieht. Wo ist nur die Zeit geblieben? Sie sind zehn Minuten hinter dem Zeitplan zurück, mindestens zehn Minuten.
    Sie spürt den vertrauten Stachel des Unbehagens, dreht sich um und geht zu Tim an die Spitze der Gruppe. Er hat aus Steinen eine Plattform gebaut, so groß wie eine Ottomane, und darauf steht er nun, die Arme in die Seiten gestemmt, in einer Hand die Sonnenbrille. Die ausgefranste Baseballmütze, die er gestern nacht an den Bettpfosten gehängt hat, damit er sie nicht vergisst, ist tief in die Stirn gezogen, so dass nur die untere Hälfte seines Gesichts der Sonne ausgesetzt ist. Er erzählt gerade von den Lebensgewohnheiten und Vorlieben des Kaninchenkauzes, und die Zuhörer betrachten die Erdhöhle dieses Wesens, das im Augenblick ausgeflogen zu sein scheint. Sie räuspert sich. »Wie sieht’s mit Ihrem Hunger aus?« fragt sie. »Ich jedenfalls könnte jetzt was vertragen.«
    O ja, die anderen auch. Natürlich. Es gibt eine unausgesprochene Vereinbarung: Immer wenn sie aus PR-Gründen zu einer Begehung einlädt, gibt es ein gutes und reichliches Mittagessen und gekühlten Wein. Eine stämmige Frau mit einem unpraktischen Strohhut, dessen Krempe der Wind so verbiegt, dass er wie eine dieser Plastikmanschetten aussieht, die der Tierarzt einem Hund um den Hals legt – ist sie die Frau des Bürgermeisters oder seine Geliebte? –, wirkt besonders hungrig, und so lächelt Alma ihr zu und sagt: »Gut, dann folgen Sie mir.«
    Sie führt sie zurück zum Besucherzentrum, wo Wade und seine Helfer, darunter auch Alicia, das Fleisch, die Salate und alles andere auf einem langen Tisch angerichtet haben, der durch ein gebügeltes weißes Tischtuch und eine Vase voller Wildblumen etwas Festliches hat. Jenseits davon, nicht weit entfernt, erhebt sich der freundliche, in der Sonne schimmernde Leuchtturm, dahinter weitet sich das Meer in einem Geflirr von Farben, alles ist einladend und wohltuend. Wie eine Party. Genau so. Die Gäste kommen näher, erst noch im Gänsemarsch, dann bilden sich schlendernde Grüppchen, man unterhält sich leise, trinkt aus Wasserflaschen, lacht und scherzt in jenem Geist der Kameraderie, den ein gemeinsames Naturerlebnis anscheinend stets hervorbringt. Alma betrachtet die Szenerie mit kritischem Blick; sie bewertet nicht, registriert aber, wer keinen Anschluss gefunden hat, und versucht Haltungen, Stimmungen zu ermitteln: Sehen sie hungrig aus, gelangweilt, zufrieden? Solche Sachen. Es ist bei ihr fast ein Reflex.
    Sie entdeckt Toni Walsh, ein Glas Wein in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand, jenseits des Grills, wo sie mit Alicia plaudert. Alicia? Aber Alma kann ja nicht alles steuern und kontrollieren, und was Alicia – dunkeläugig, stylisch, etwas über zwanzig und ungefähr so gesprächig wie ein Stein – Toni Walsh zu erzählen hat, kann nicht viel sein und wird der Sache gewiss nicht schaden. Alicia ist nur Sekretärin, unerschütterlich und tüchtig, wenn auch ein wenig blutleer, und von Regenerationsökologie weiß sie nur, was sie durch Osmose aufgenommen hat. Alma ist ganz sicher, dass es ihr völlig egal ist, ob sie für den Park Service oder die Industrie und die Umweltverschmutzer arbeitet.
    Sie erinnert sich an einen Abend, an dem sie und Alicia allein im Büro waren und Überstunden machten, um das Manuskript für eine Rede zu überarbeiten, die Freeman auf einer Konferenz unter Vorsitz des Innenministers halten sollte. Alma las den Text laut vor, und Alicia verglich ihn mit ihrem Manuskript. Es war eine ziemlich langweilige Tätigkeit – Freeman war nicht gerade ein mitreißender Redner –, und irgendwann machten sie eine Pause und gingen auf die Terrasse, um zuzusehen, wie die Nebelschwaden sich in den Büschen verfingen. Alma bestritt den größten Teil der Unterhaltung; sie sprach über dies und das, Alltägliches, das nichts mit der Arbeit zu tun hatte, und wenn Alicia sich nicht öffnen wollte, nicht einmal jetzt, da die Stimmung entspannter war als während der Bürozeiten, wo sich die Kluft zwischen Chefin und Untergebener vielleicht als zu groß erwies, so konnte Alma das verstehen. Aber es war so gut wie unmöglich, diese Frau dazu zu bringen, irgend etwas zu erzählen, über ihren Freund, ihre Eltern, einen Film, den sie gesehen hatte. Sie sagte nur ja, nein, mh-mh, und wenn sie irgendwelche Meinungen hatte, behielt sie diese für

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