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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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War das System perfekt? Natürlich nicht. Die Trennzone funktionierte wie der Grünstreifen einer Schnellstraße, nur dass es auf dem Wasser natürlich keine Markierungen gab, keine Leitplanken, Palmen oder Oleanderbüsche, die die nach Norden und Süden führenden Fahrbahnen trennten. Kam es zu Unfällen? Natürlich. Doch meist sah, spürte oder hörte die Besatzung eines Frachtschiffs überhaupt nichts, wenn ein kleines Boot das Pech hatte, ihm in die Quere zu kommen. Man muss es sich so vorstellen: Eine dicke Frau, noch dicker als Marta aus dem Cactus Café, ein Monument aus Fleisch, Knochen und fließenden Säften, stampft nach einer Doppelschicht auf schmerzenden Füßen zu ihrem Wagen und hat nicht die leiseste Ahnung, welche Katastrophen sie dabei in der Welt der Ameisen, Käfer und Würmer anrichtet.
    Wilson ist fix, das muss man ihm lassen. Als Dave die Treppe herunterpoltert, hat Wilson bereits die Klappe hinter dem Tisch geöffnet und, bevor Dave sie wieder zuknallen kann, einen der Säcke herausgezerrt. Die zweite Weinflasche, Anises Chardonnay, ist halb leer, und die Frauen essen jetzt etwas, haben sich über die Sandwiches hergemacht, ohne auf den Gedanken zu kommen, ihm auch eins anzubieten. Sie blicken amüsiert auf, als würden er und Wilson irgendein lustiges Spiel spielen, aber das ist nicht lustig, ganz und gar nicht. Es ist dumm. Idiotisch. Und er wird es nicht zulassen, nicht auf seinem Boot. Zwischen ihm und Wilson ist der Tisch, und Anise sitzt auf der Bank und ist im Weg. »Leg den Sack hin«, sagt er.
    Aber Wilson bleckt grinsend die Zähne, als wäre das hier eine Zahnpastareklame, und schwenkt den Sack. »Auf keinen Fall, Mann. Ich will ihn ja auch nur« – er senkt den Blick und löst die Schnur, mit der der Sack zugebunden ist, während Dave danach greift, aber im selben Augenblick wieder zurückfährt, aus Angst vor dem dunklen Ding darin und seinen Giftzähnen, und hat Stiles nicht gesagt, dass sie durch den Stoff beißen können? – »aufmachen und den Frauen zeigen … ta-ta-ta-daa, Überraschung!«
    In diesem Augenblick, dem Augenblick, in dem sich der Sack öffnet und Wilson so blitzschnell, als hätte es nie einen Sack gegeben, den Arm hineinstreckt und das Ding hervorholt, das er unmittelbar hinter dem flachen, dreieckigen Kopf gepackt hat und dessen Körper sich windet und emporschnellt wie eine gutgezielte Ohrfeige, fühlt Dave sich so hilflos wie noch nie in seinem Leben. Und hoffnungslos. Er ist erstarrt, die beiden Frauen stoßen kleine, halberstickte Schreie des Erschreckens und der Belustigung aus, denn das ist es, was Frauen in solchen Situationen zu tun haben, und Wilson grinst und schwenkt die Schlange, als hätte er sie persönlich zur Welt gebracht. Und Daves einziger Gedanke ist, dass alles schrecklich aus dem Ruder gelaufen ist.
    Da ist sie, die Schlange, seine Schlange, die er von seinem Geld gekauft hat, um sie zu besitzen und wieder freizulassen, wie es ihm beliebt, und sie steckt nicht mehr in einem Sack, sie ist nicht mit Stoff bedeckt und vor Blicken verborgen, sondern krümmt und windet sich direkt vor seinem Gesicht, ihre Schwanzrassel surrt erbost wie ein aufgestörter Bienenschwarm, sie ist dick, bedrohlich, tödlich, ihr Wesen zeigt sich unverhüllt. Eine Schlange. Eine Klapperschlange. Crotalus viridis. Sie hat das Maul wütend aufgerissen, ihre Fangzähne sind gelblichweiß und triefen von Gift. Es wird eng in der Kajüte. Das Meer wogt. Und er begreift, zum erstenmal begreift er, wie unrecht das ist, wie unrecht er hatte und dass man die Tiere – die Tiere – selbst entscheiden lassen muss.
    Dann ertönt eine Schiffssirene, laut wie Kanonendonner.
    Dann kommt der Zusammenstoß.
    Dann nichts mehr.

SCORPION RANCH

    Sie hat den Kanal noch nie so unbewegt erlebt. Als sie aus dem Hafen von Ventura auslaufen, gibt es keine Wellen, und um zehn Uhr morgens ist es schon so warm wie mittags. Soweit sie es beurteilen kann, geht keine Brise, nicht die leiseste – es ist absolut windstill, die Brandung ist kraftlos, die Boote rühren sich nicht von der Stelle, das Kelp liegt schlaff im Wasser. Heute werden nicht viele Segler unterwegs sein – tja, da werden die Freizeitkapitäne eben leiden müssen. Sie hat gar nichts dagegen, ein bisschen egoistisch zu sein – selbst wenn sie die Macht hätte, den Planeten auf seiner Achse anzuhalten, hätte sie kein besseres Wetter bestellen können. Es ist wirklich bemerkenswert. Obwohl die Islander bis auf den letzten

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