Grün wie ein Augustapfel
hochgewölbten Korridor. Die verbrauchte Luft, säuerlich und voll alten Aktenstaubes, legte sich beengend auf Viktorias Lungen. Um sie herum war ein ständiges Kommen und Gehen, Parteien wurden aufgerufen, Anwälte in flatternden Roben eilten zu ihren Terminen, kleine Gruppen standen diskutierend vor den Verhandlungszimmern, ein dumpfes Brausen erfüllte das Gewölbe. Viktoria ließ sich auf einer der langen Bänke nieder.
»Verzeihen Sie, gnädige Frau, Sie sind doch Gregors Mutter, nicht wahr? Mein Name ist Cornelius.«
Viktoria blickte auf. Sie hatte sich den Brauereidirektor anders vorgestellt. Der Herr, der sich vor ihr verbeugte, drahtig und fast überschlank, in einem sehr modernen, jugendlich wirkenden Sommeranzug, die linke Hand in einem durchbrochenen Fahrhandschuh, sah eher nach Bühne als nach Hopfen und Malz aus.
»Warten Sie auch auf Ihren Sohn, Herr Cornelius?«
»Ja, mein Anwalt ist gerade beim Untersuchungsrichter. Er meinte, ich könne den Jungen mitnehmen. Wen haben Sie zum Anwalt genommen?«
»Justizrat Meisinger.«
Herr Cornelius nickte anerkennend, er schien den Justizrat zu kennen und zu schätzen.
»Hat der Justizrat Ihnen gesagt, was er annimmt? Sie verstehen, gnädige Frau?«
»Sechs Monate...«
Herr Cornelius griff nach seinem Hals, der Kragen schien ihm plötzlich eng zu werden: »Um Gottes willen!«
»Er hofft durchzusetzen, daß die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird.«
»Bewährung«, knurrte Herr Cornelius, »wenn man liest, daß notorische Gauner mit ein paar Monaten davonkommen und mit Bewährung dazu... Und dann unsere Jungen... Dumme Bengel, die aus Corpsgeist und Kameradschaft... Und dafür sechs Monate! Und die ganze Zukunft im Eimer... Ich frage Sie, wo soll der Junge jetzt noch aktiv werden? War selber Zweibändermann, Würzburg und Erlangen. Aus! Vorbei! Sand drüber!«
Viktoria sah ihn etwas erstaunt an. Herr Cornelius schien ihre Gedanken zu erraten, daß sie sich seine Sorgen wünschte.
»Na ja, immerhin«, murmelte er mit verzogenem Mund, »habe ich meiner Frau auch beizubiegen versucht. Aber Sie wissen ja, unsere Stellung. Und die Gesellschaft... Hatten heute abend eine Bridgepartie. Natürlich abgesagt. Ich hätte es darauf ankommen lassen. Aber meine Frau...«
Frau Cornelius spielte im Gesellschaftsleben der Stadt eine bedeutende Rolle. Sie gehörte dem Vorstand des Tennisclubs Rot-Weiß an, verkehrte mit dem Landadel der Umgebung, nahm als passionierte Reiterin an Turnieren und Fuchsjagden teil, und war die Begründerin des Literaturvereins, der monatlich einen Diskussionsabend und eine Dichterlesung veranstaltete. Eine betriebsame Dame.
Viktoria warf einen nervösen Blick auf ihre Uhr, aber im gleichen Augenblick öffnete Justizrat Meisinger die Tür des Verhandlungszimmers. Er brachte Gregor mit, und hinter ihm verließ auch Werner Cornelius in Begleitung seines Anwalts das Zimmer, in dem Amtsgerichtsrat Saffran die Jungen verhört hatte. Herr Cornelius verabschiedete sich eilig von Viktoria und nahm seinen Sohn in Empfang. Der Justizrat führte Gregor zu Viktoria, mit zwei Fingern am Stoff des Ärmels, als führe er ihn am Ohr herbei.
»So, Frau Mellin, da haben Sie den Sünder wieder. Wir haben miteinander verabredet, daß er in den nächsten Tagen einmal zu mir in die Kanzlei kommt. Entschuldigen Sie mich jetzt, auf mich warten meine Klienten.« Er reichte Viktoria die Hand, gab Gregor einen väterlichen Schlag auf die Schulter und eilte davon, erstaunlich leichtfüßig und mit einer gewohnheitsmäßigen Bewegung der Hand, als raffe er eine Robe ein wenig empor, um schneller ausschreiten zu können. Die Zigarre hing schon wieder in seinem Mund.
Viktoria preßte Gregor an sich, als müsse sie sich davon überzeugen, daß sie ihn wirklich wieder vor sich habe. Er sah grau aus, grau, übernächtigt und verfallen, und um Jahre gealtert.
»Ach, Mutter, diese Nacht in der Polizeizelle... Und die endlosen Verhöre... Und heute beim Richter das gleiche noch einmal von vorn. Wir wurden getrennt vernommen. Zuerst kam Werner dran. Und dann ich. Und dann warteten wir auf Walter, daß er bestätigte, was wir dem Richter erzählt haben. Die Geschichte mit Kniesel. Und daß er nur auf die Taschenlampe gezielt hat. Und dann hat uns der Amtsgerichtsrat gesagt, vor zehn Minuten, daß Walter...« Er schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter und biß sich in den Finger, als müsse er sich einen Schmerz zufügen, der den anderen an Stärke übertraf. »Wie
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