Grüne Tomaten: Roman (German Edition)
ich, dass man in einer Klinik nicht sicher ist. Mrs. Hartman, meine Nachbarin, hat eine Kusine. Die war mal in einem Krankenhaus in Alabama und erzählte später von einem Patienten, der aus seinem Zimmer gegangen war, um frische Luft zu schnappen. Man fand ihn erst sechs Monate später, ausgesperrt im Dachgarten des fünften Stocks. Da war nur mehr ein Skelett im Krankenhaushemd übrig. Und Mr. Dunaway sagte, als er in der Klinik gewesen sei, habe man ihm während seiner Operation die falschen Zähne direkt aus dem Glas auf seinem Nachttischchen gestohlen. Welcher Mensch würde denn die Zähne eines alten Mannes stehlen?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Evelyn.
»Nun, ich weiß es auch nicht.«
T ROUTVILLE , A LABAMA
2. Juni 1917
Onzell ließ sich von Sipsey die beiden Zwillinge in die Arme legen, die sie soeben geboren hatte, und traute ihren Augen nicht. Die Haut des ältesten Sohnes, den sie Jasper nannte, schimmerte so hell wie Milchkaffee, der andere, der Artis hieß, war kohlschwarz.
Als Big George die beiden später sah, schüttete er sich beinahe aus vor Lachen.
Sipsey spähte in Artis’ Mund. »Schau dir das an, George! Das Baby hat einen blauen Gaumen.« Betrübt schüttelte sie den Kopf. »Gott steh uns bei!«
Aber Big George, der nicht abergläubisch war, lachte immer noch …
Zehn Jahre später fand er es nicht mehr so komisch. Soeben hatte er Artis windelweich geschlagen, weil der mit einem Taschenmesser auf seinen älteren Bruder eingestochen hatte, und zwar fünfmal, bevor es einem älteren Jungen gelungen war, ihn wegzuziehen und quer durch den Hof zu schleudern.
Jasper war aufgesprungen und ins Café gelaufen. Er hielt seinen blutenden Arm hoch und schrie nach seiner Momma. Big George stand gerade am Barbecue. Er sah Jasper zuerst und trug ihn ins Doktorhaus.
Dr. Hadley säuberte die Wunde und verband den Arm. Als Jasper dem Arzt erzählt hatte, sein Bruder habe ihm das angetan, war Big George furchtbar verlegen gewesen.
In dieser Nacht konnten beide Jungen vor Schmerzen nicht schlafen. Sie lagen im Bett, starrten durch das Fenster auf den Vollmond und lauschten dem Gesang der Frösche und Grillen.
Artis wandte sich zu seinem Bruder, der im Mondlicht fast weiß aussah. »Klar, das hätte ich nicht tun dürfen – aber es hat mir so viel Spaß gemacht.«
T HE W EEMS W EEKLY
(W HISTLE S TOP , A LABAMA , W OCHENBLATT )
1. Juli 1935
D IE S ITZUNG DER B IBELGRUPPE
Letzte Woche, am Mittwochvormittag, trafen sich die Mitglieder der Bibelstudien-Damengruppe von der Whistle-Stop-Baptistenkirche in Mrs. Vesta Adcocks Haus und diskutierten über Methoden, die Bibel zu lesen und das Verständnis zu erleichtern. Das Thema lautete: »Die Arche Noah«, und es ging um die Frage: »Warum nahm Noah zwei Schlangen mit an Bord, wo er doch eine Gelegenheit hatte, die Biester ein für alle Mal loszuwerden?« Wenn jemand eine Erklärung dafür weiß, wird er gebeten, sich bei Vesta zu melden.
Am Samstag gaben Ruth und Idgie eine Geburtstagsparty für ihren kleinen Jungen. Alle Gäste tobten sich nach Herzenslust aus, aßen Torte und Eiscreme, und jeder bekam eine kleine Glaslokomotive, mit winzigen Zuckerkügelchen gefüllt.
Idgie sagt, am Freitagabend würden sie wieder das Kino besuchen, falls jemand mitgehen will.
Da wir gerade vom Kino reden – neulich kam ich vom Postamt nach Hause, und da hatte es meine andere Hälfte so eilig, in Birmingham einen Film zu sehen, bevor die Preise für die Eintrittskarten erhöht werden, dass er einfach seine Jacke packte und mit mir zur Tür hinausstürmte. Als wir da waren, jammerte er, weil sein Rücken während der ganzen Vorführung schmerzte. Daheim stellten wir dann fest, warum. In seiner Hast hatte er vergessen, den Kleiderbügel aus der Jacke zu nehmen. Ich sagte, nächstes Mal würden wir lieber die teureren Karten bezahlen, denn er hatte mir den Abend verdorben, weil er ständig auf seinem Sitz herumgerutscht war.
Übrigens, will irgendjemand einen gebrauchten Ehemann kaufen, wirklich sehr billig?
War nur ein Spaß, Wilbur.
Dot Weems
P FLEGEHEIM R OSE T ERRACE
O LD M ONTGOMERY H IGHWAY , B IRMINGHAM , A LABAMA
2. Februar 1986
Als Evelyn eintraf, sagte ihre Freundin: »Oh, ich wünschte, Sie wären zehn Minuten früher da gewesen. Sie haben meine Nachbarin, Mrs. Hartman, nur knapp verpasst. Das hat sie mir gebracht.« Sie zeigte auf eine winzige Fetthenne in einem weißen Keramiktopf, der einen Cockerspaniel darstellte. »Und Mrs. Otis hat sie
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