Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grüne Tomaten: Roman (German Edition)

Grüne Tomaten: Roman (German Edition)

Titel: Grüne Tomaten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fannie Flagg
Vom Netzwerk:
war, um die Schlüssel vom Model T aus seiner Hosentasche zu stehlen, und dass sie unbedingt aufbrechen mussten, ehe er aufwachte.
    Sie fuhren zu einem Plätzchen am Double Spring Lake, das Idgie vor vier Jahren entdeckt hatte. Dort stürzte ein Wasserfall in einen kristallklaren Fluss, der mit schönen grauen und braunen Steinen gefüllt war, glatt und rund wie Eier.
    Idgie breitete die Decke aus und holte den Picknickkorb aus dem Wagen. Sie tat sehr geheimnisvoll. Schließlich fragte sie: »Ruth, wenn ich dir was zeige, schwörst du, dass du’s keiner Menschenseele verraten wirst?«
    »Was ist es denn?«
    »Schwörst du’s? Du wirst es niemandem erzählen?«
    »Ich schwör’s dir. Was ist es denn?«
    »Ich zeig’s dir.« Idgie griff in den Korb und zog ein leeres Marmeladenglas heraus. »Gehen wir.« Sie führte Ruth in den Wald, etwa eine Meile weit, dann zeigte sie auf einen Baum. »Da ist es.«
    »Was?«
    »Die große Eiche da drüben.«
    »Oh.«
    Idgie nahm Ruth bei der Hand und ging mit ihr hinter einen anderen Baum, etwa hundert Schritte von der Eiche entfernt. »Du bleibst hier, und was immer passiert – du rührst dich nicht.«
    »Was hast du vor?«
    »Frag nicht, schau mir einfach zu, okay? Und sei ganz still. Du darfst keinen Muckser von dir geben.«
    Idgie ging auf ihren bloßen Füßen zur Eiche. Auf halbem Weg drehte sie sich um und vergewisserte sich, dass Ruth sie auch wirklich beobachtete. Etwa zehn Schritte vor der Eiche vergewisserte sie sich noch einmal. Dann tat sie etwas Erstaunliches. Auf Zehenspitzen schlich sie weiter, summte leise und steckte das Marmeladenglas in ein Loch im Baumstamm.
    Plötzlich hörte Ruth ein lautes Surren, und der Himmel verdunkelte sich, als ganze Horden wütender Bienen aus dem Eichenstamm schwirrten. Sekunden später war Idgie von Kopf bis Fuß mit Insekten bedeckt. Aber sie stand ganz ruhig da. Nach einer Minute zog sie vorsichtig die Hand aus der Öffnung, kehrte langsam zu Ruth zurück und summte immer noch vor sich hin. Als sie den anderen Baum erreichte, waren fast alle Bienen davongeflogen. Was eben noch eine schwarze Gestalt gewesen war, sah jetzt wieder wie Idgie aus, grinste von einem Ohr zum anderen und hielt ein Glas mit wildem Honig in der Hand, das sie ihrer Freundin entgegenstreckte. »Für dich, Madame.«
    Ruth, vor Angst halb von Sinnen, glitt am Baumstamm hinab, sank auf den Boden und brach in Tränen aus. »Ich dachte, du wärst tot! Warum hast du das getan? Du hättest dich umbringen können.«
    »Oh, wein doch nicht. Tut mir leid. Hier, willst du den Honig nicht? Den hab’ ich nur für dich geholt. Bitte, hör zu weinen auf. Alles ist okay. Da mach’ ich immer, und ich werde nie gestochen. Ehrlich! Komm, ich helf dir auf die Beine. Du wirst ja ganz schmutzig.« Idgie gab Ruth das blaue Taschentuch, das sie in ihrer Hosentasche bei sich trug.
    Immer noch zitternd, stand Ruth auf, putzte sich die Nase und wischte ihr Kleid ab.
    »Bedenk doch – das hab’ ich noch für keinen anderen getan«, versuchte Idgie sie aufzuheitern. »Außer dir weiß niemand auf der ganzen Welt, dass ich’s kann. Ich wollte nur ein Geheimnis mit dir teilen, das ist alles.« Als Ruth nicht antwortete, flehte Idgie: »Bitte, sei nicht böse! Es tut mir leid.«
    »Böse?« Ruth umarmte Idgie. »Oh, ich bin dir nicht böse. Aber ich habe keine Ahnung, was ich tun würde, wenn dir jemals was zustieße.«
    Da begann Idgies Herz so heftig zu klopfen, dass es sie beinahe umwarf.
    Nachdem sie das Hühnchen und den Kartoffelsalat, die Biskuits und fast den ganzen Honig gegessen hatten, saß Ruth da, an einen Baumstamm gelehnt, und Idgie legte den Kopf in ihren Schoß. »Für dich könnte ich einen Mord begehen, Ruth. Wenn dir jemand was antut, töte ich ihn, ohne lange zu überlegen.«
    »Oh Idgie, sag doch nicht so was Schreckliches!«
    »Es ist nicht schrecklich. Ich finde es besser, aus Liebe zu töten als aus Hass. Du nicht auch?«
    »Ich glaube, ich könnte überhaupt nicht töten – egal, aus welchen Gründen.«
    »Okay, dann sterbe ich für dich. Wie gefällt dir das? Meinst du, man kann aus Liebe sterben?«
    »Nein.«
    »In der Bibel steht, dass Jesus Christus genau das getan hat.«
    »Das ist was anderes.«
    »Nein. Ich könnte jetzt auf der Stelle sterben, und es würde mich nicht stören. Ich wäre die einzige Leiche mit einem Lächeln auf dem Gesicht.«
    »Sei nicht albern.«
    »Heute hätte ich umgebracht werden können.«
    Ruth drückte ihr die Hand.

Weitere Kostenlose Bücher