Grüne Tomaten: Roman (German Edition)
rollten. Jasper war in eine christliche Pension gezogen, vier Häuserblocks entfernt, und gleich am ersten Sonntag in die Baptistenkirche an der 16th Street gegangen. Dort verliebte sich Miss Blanch Maybury in den hellhäutigen Burschen mit den Sommersprossen seiner Mutter. Sie war die einzige Tochter von Mr. Charles Maybury, dem angesehenen Bürger, bekannten Lehrer und Direktor der Highschool für Schwarze. Durch sie wurde Jasper automatisch in der exklusiven schwarzen Mittel- und Oberschicht aufgenommen.
Bald heirateten sie, und wenn Blanchs Vater enttäuscht über Jaspers mangelnde Ausbildung und ärmliche Herkunft war, so entschädigten ihn die helle Haut und die guten Manieren des Schwiegersohns.
Nach der Hochzeit arbeitete Jasper sehr hart. Er wohnte in den kalten, von Ratten bevölkerten Schlafsälen, die den Gepäckträgern von der Bahngesellschaft zur Verfügung gestellt wurden, wenn sie außerhalb von Birmingham übernachteten. Währenddessen gab Artis sein Geld für Kleidung und Frauen aus. Jasper sparte, bis er mit Blanch zur Klavierhandlung gehen und ein Instrument bar bezahlen konnte. Ein Klavier im Haus zu haben, das bedeutete schon etwas. Zehn Prozent seines Verdienstes spendete er der Kirche, und er richtete bei der Penny Saving Bank für Schwarze ein Sparkonto für das College-Studium seiner Kinder ein. Niemals trank er einen Tropfen Whiskey, niemals lieh er sich auch nur zehn Cent, nie machte er Schulden. Als einer der ersten Schwarzen von Birmingham übersiedelte er ins Weißenviertel Enon Ridge, später Dynamite Hill genannt. Nachdem der Ku-Klux-Klan die roten Ziegelhäuser von Jasper und mehrerer Nachbarn in die Luft gesprengt hatte, zogen die meisten weg. Aber Jasper blieb. Jahrelang ertrug er Rufe »He, Sambo«, »He, Junge«, »He, George«, leerte Spucknäpfe, reinigte Toiletten, putzte Schuhe und schleppte so viel Gepäck, dass er nachts wegen der Schmerzen in den Schultern und im Rücken nicht schlafen konnte. Oft weinte er, weil er sich gedemütigt fühlte, wenn etwas gestohlen wurde und die Bahnbeamten zuerst in den Schränken der Pullman-Träger nachschauten.
Er sagte »Ja, Sir« und »Ja, Ma’am« und lächelte, servierte grölenden Handelsvertretern mitten in der Nacht Schnaps, ließ sich von arroganten weißen Frauen beschimpfen und von Kindern »Nigger« nennen. Von manchen weißen Schaffnern wurde er wie der letzte Dreck behandelt, andere Träger stahlen sein Trinkgeld. Wenn sich Reisende übergeben hatten, machte er klaglos sauber. Und er fuhr hundertmal durchs Cullman County, vorbei an dem Warnschild: »Nigger … Lassen Sie sich nicht die Sonne auf den Kopf scheinen.«
Das alles hatte er hingenommen. Aber …
Die Begräbnisversicherung für seine Familie war bezahlt, alle vier Kinder hatten auf dem College studiert, keines würde jemals von Trinkgeldern leben müssen. Dieser Gedanke hatte ihn während der harten, beschwerlichen Jahre aufrechterhalten.
Das – und die Züge. Wenn Artis in die Stadt verliebt war, so liebte sein Bruder die Züge, die Clubwaggons mit der dunklen, polierten Mahagonitäfelung und den roten Samtsitzen, Züge mit poetischen Namen – »The Sunset Limited«, »The Royal Palm«, »The City of New Orleans«, »The Dixie Flyer«, »The Fire Fly«, »The Twilight Limited«, »The Palmetto«, »The Black Diamond«, »The Southern Belle«, »The Silver Star« …
Und heute Nacht saß er in »The Gread Silver Comet«, schlank und stromlinienförmig wie eine Silberröhre – von New York nach Atlanta und zurück, einer der letzten großen Züge, die immer noch verkehrten. Jeden einzelnen hatte er betrauert, als sie eingestellt worden waren, um in irgendwelchen Hallen zu verrosten. Wie alte Aristokraten siechten sie dahin, Reliquien aus vergangenen Zeiten. Und in dieser Nacht fühlte er sich wie einer dieser Züge – ausrangiert, unmodern, nutzlos, nachdem er seinen Zenit längst überschritten hatte.
Erst neulich hatte er seinen Enkel Mohammed Abdul Peavey zu dessen Mutter sagen hören, er wolle nicht mehr mit seinem Granddaddy irgendwohin gehen, weil der ständig vor den Weißen katzbuckelte und in den Kirchen noch die alten Ragtime-Gospels sang.
Jasper erkannte, dass seine Zeit vorbei war, so wie für seine alten Freunde, die jetzt in den Bahnhofshallen verrosteten. Er wünschte, es wäre anders. Sein Leben hatte er auf die einzige Art bewältigt, die ihm möglich gewesen war. Aber er hatte es geschafft.
H OTEL S T . C LAIR
(B IRMINGHAMS M
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