Grüne Tomaten: Roman (German Edition)
denselben Enthusiasmus.
Sie hatte sich geirrt. Nichts erinnerte hier an die Kirchen der Weißen. Nichts glich den trockenen, blutleeren Predigten, an die sie gewöhnt war.
Die Begeisterung des Reverends für den Allmächtigen wirkte ansteckend und breitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Raum aus. Mit unanfechtbarer Autorität versicherte er, Gott sei nicht rachsüchtig, sondern ein Gott der Liebe, des Verzeihens – und der Freude. Schließlich begann er zu tanzen, stolzierte umher, sang seine Worte zum Gewölbe hinauf. Schweißperlen glänzten auf seinem Gesicht, die er gelegentlich mit dem weißen Taschentuch in seiner rechten Hand wegwischte.
Und während er sang, hallte es ihm aus dem ganzen Kirchenschiff entgegen:
» Ihr könnt keine Freude genießen, wenn ihr eure Nächsten nicht liebt … «
»Das stimmt, Herr.«
» Liebet eure Feinde … «
»Ja, Herr.«
» Befreit euch von altem Groll.«
»Ja, Herr, davon befreien wir uns.«
» Schüttelt jenen alten Teufel ab, den Neid … «
»Ja, Herr.«
» Gott kann verzeihen …«
»Ja, das kann Er.«
» Warum könnt ihr es nicht?«
»Du hast recht, Herr.«
» Irren ist menschlich – Verzeihen göttlich … «
»Ja, Herr.«
» Es gibt keine Auferstehung für Leiber, die von den Maden der Sünde angenagt wurden …«
»Nein, Herr.«
» Aber Gott kann euch erheben …«
»Ja, das kann Er.«
» Oh! Gott ist gut … «
»Ja, Herr.«
» Oh! Wie gut unser Gott ist … «
»Du hast recht, Herr.«
» Welch einen Freund haben wir an Jesus … «
»Oh ja, Herr.«
» Ihr könnt getauft, beschnitten, galvanisiert oder poliert werden, aber es bedeutet gar nichts, wenn euch die ewige Seligkeit versagt bleibt … «
»Nichts, Herr.«
» Wir danken Dir, Jesus! Wir danken Dir, Jesus! Guter allmächtiger Gott! Heute Morgen preisen wir Deinen Namen und danken Dir, Jesus! Hallelujah!Hallelujah, Jesus!«
Nachdem er geendet hatte, dröhnte es vibrierend durch die Kirche: »Amen! Hallelujah!«
Neuer Chorgesang erklang. » Werdet ihr gewaschen im Blut? Im Blut des Lamms, das die Seele reinigt? Oh, sagt mir, süße Kinder! Werdet ihr gewaschen im Blut?«
Evelyn war nie religiös gewesen, aber an diesem Tag fühlte sie sich emporgehoben, wurde erlöst von der Angst, die sie so lange gefesselt hatte. Sie spürte, wie sich ihr Herz öffnete und erfüllt wurde von der wunderbaren Erkenntnis, am Leben zu sein, das Leben meistern zu können.
Sie schwebte zum Altar, wo ein weißer Jesus, dünn und schwach, eine Dornenkrone auf dem Haupt, von seinem Kruzifix auf sie herabblickte und sagte: »Verzeih ihnen, mein Kind, denn sie wissen nicht, was sie tun …«
Nun musste sie Mrs. Threadgoode recht geben. Sie hatte dem Allmächtigen ihre Sorgen anvertraut und war davon befreit worden.
Evelyn holte tief Atem, und die schwere Bürde des Grolls und des Hasses flog durch die Luft davon und nahm Towanda mit. Sie war frei! Und in diesem Moment vergab sie dem Jungen, der sie vor dem Supermarkt beschimpft hatte, dem Arzt ihrer Mutter, den Mädchen auf dem Parkplatz – und sich selbst. Sie war frei. Frei! So wie dieses Volk hier, das so viel gelitten, aber dem Hass und Furcht nicht gestattet hatten, ihm den Geist der Liebe zu rauben.
Nun forderte der Reverend Portor alle Anwesenden auf, den Sitznachbarn die Hände zu reichen. Die schöne junge Frau an Evelyns Seite schüttelte ihr die Hand. »Gott segne Sie.«
Und Evelyn erwiderte den Händedruck. »Ich danke Ihnen. Oh, ich danke Ihnen so sehr.«
Ehe sie die Kirche verließ, drehte sie sich in der Tür um und warf einen letzten Blick zurück. Vielleicht war sie in der Hoffnung hergekommen, herauszufinden, wie man sich als Farbiger fühlte. Nun erkannte sie, dass sie es niemals wissen würde – genauso wenig, wie ihre Freunde hier jemals verstehen konnten, was es hieß, ein Weißer zu sein. Nie mehr würde sie hierher zurückkehren. Dies war die Kirche jener anderen Menschen. Aber sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben echte Freude empfunden. Jene Freude, die sie oft in Mrs. Threadgoodes Augen gesehen, aber nicht richtig wahrgenommen hatte. Vielleicht würde ihr nie wieder so zumute sein. Aber sie hatte dieses Gefühl kennengelernt, und sie würde es bis an ihr Lebensende nicht vergessen. Es wäre wunderbar gewesen, hätte sie allen in der Kirche sagen können, wie viel dieser Tag ihr bedeutete.
Und es wäre auch wunderbar gewesen, hätte Evelyn gewusst, dass die junge Frau, die ihr die Hand gereicht hatte, die älteste
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