Grünes Gift
allgemein bekannt ist«, fügte Pitt resigniert hinzu. »Sie hat mich ziemlich zur Schnecke gemacht. Jedenfalls hielt ich es für sinnvoll, mich schnellstens wieder hier blicken zu lassen, um sie wenigstens mit meiner Einsatzfreude zu beeindrucken.«
»Schaden kann’s wohl nicht«, entgegnete Cheryl. »Obwohl das natürlich weit über Ihre Pflicht hinausgeht. Andererseits ist uns jede Hilfe willkommen, und ich werde auf alle Fälle dafür sorgen, daß unsere strenge Chefin erfährt, wie unermüdlich Sie im Dienst sind. Sie könnten sich ein paar Routinefälle vornehmen und die Vorbesprechungen durchführen. Vor einer Stunde wurde ein schwerverletzter Autofahrer eingeliefert. Seitdem sind wir ziemlich ins Hintertreffen geraten, denn die Krankenschwestern sind alle anderweitig eingespannt.« Pitt freute sich, daß Cheryl ihm eine Aufgabe übertragen hatte, die er zudem recht gerne erledigte. Er nahm sich das oberste Klemmbrett und ging in den Wartebereich. Seine erste Patientin hieß Sandra Evans; sie war vier Jahre alt. Pitt rief ihren Namen auf, woraufhin sich eine Mutter und ihre Tochter von den harten Plastikstühlen erhoben. Außer ihnen warteten in dem überfüllten Raum noch zahlreiche Patienten, denen die Ungeduld ins Gesicht geschrieben stand. Die Frau war Anfang dreißig und wirkte etwas ungepflegt. Das kleine Mädchen sah mit seinem blonden Lockenkopf recht niedlich aus, doch es war offensichtlich krank. Außerdem wirkte es schmutzig; es hatte einen fleckigen Schlafanzug und einen viel zu kleinen Bademantel an.
Pitt ging voraus und führte die beiden in ein Untersuchungszimmer. Er hob die kleine Sandra hoch und setzte sie auf den Tisch. Ihre blauen Augen waren glasig, sie war blaß und verschwitzt. Da sie sich so elend fühlte, schien ihr das Ambiente der Notaufnahme so gut wie keine Angst einzuflößen. »Sind Sie der Arzt?« fragte die Mutter. Pitt wirkte entschieden zu jung.
»Nein«, erwiderte Pitt. »Ich bin für die Aufnahmeformalitäten zuständig.« Er arbeitete inzwischen so lange in der Notaufnahme und hatte sich um so viele Patienten gekümmert, daß er sich wegen seines Status keine Gedanken mehr machte. »Was hast du denn, meine Kleine?« fragte er das Mädchen, während er ihr zum Blutdruckmessen eine Kindermanschette um den Arm legte und sie aufblies. »Ich habe eine Wanze«, erklärte Sandra.
»Sie meint, sie hat einen Bazillus«, schaltete die Mutter sich ein. »Aus irgendeinem Grund verwechselt sie das immer. Muß wohl an der Grippe liegen. Heute morgen fing es an. Da mußte sie plötzlich furchtbar husten und niesen. Eins sag’ ich Ihnen: Kinder haben immer irgendein Wehwehchen.« Der Blutdruck war in Ordnung. Als Pitt die Manschette löste, fiel ihm in Sandras rechter Handfläche ein buntes Heftpflaster auf.
»An der Hand hast du dir wohl auch weh getan«, sagte er, während er das Fieberthermometer holte. »Da hat mich ein Stein gebissen«, erklärte Sandra.
»Sandra«, ermahnte Mrs. Evans ihre Tochter, »habe ich dich nicht gebeten, mit der Schwindelei aufzuhören?« Die Mutter war mit ihrer Geduld am Ende, so viel war klar.
»Ich schwindele ja gar nicht«, erwiderte Sandra empört. Mrs. Evans zog ein Gesicht, als wolle sie sagen: »Was soll ich machen?«
»Wie viele Steine haben dich denn gebissen?« zog Pitt seine kleine Patientin auf, während er das Thermometer ablas. Es zeigte über neununddreißig Grad. Er notierte die Temperatur und den Blutdruck auf dem Krankenblatt. »Nur einer hat gebissen«, erwiderte Sandra. »Ein schwarzer.«
»Dann sollten wir wohl besser keine schwarzen Steine anfassen«, stellte Pitt fest und bat Mrs. Evans, die Kleine bis zur Ankunft des Arztes nicht aus den Augen zu lassen. Er ging zum Empfang und legte das Krankenblatt in ein Fach, aus dem der Arzt es wieder herausnehmen würde. Als er gerade wieder in den Warteraum gehen wollte, wurde die Eingangstür aufgerissen.
»Helfen Sie mir!« schrie ein Mann; er stützte eine Frau, die unter schweren Krämpfen zu leiden schien. Er stolperte ein paar Schritte vorwärts und drohte jeden Moment zusammenzubrechen.
Pitt war der erste, der dem Mann zu Hilfe eilte. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern befreite er ihn von seiner Last und faßte die Frau unter die Arme. Da sie völlig verkrampft war, kostete es ihn einige Mühe, sie zu halten.
Inzwischen waren auch Cheryl Watkins und einige Ärzte der Notaufnahme herbeigeeilt. Sogar Dr. Sheila Miller war aus ihrem Büro gestürzt, als sie die
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