Grünmantel
nicht - du hast ’ne Verabredung.«
»Sie kommt doch wieder in Ordnung, Tony, oder? Ich meine, sie sieht so ... ich weiß nicht ... irgendwie so kraftlos aus.«
»Sie hat ’ne Menge durchgemacht in den letzten Stunden. Sie ist nicht mehr so jung und widerstandsfähig wie du. Aber sie wird das alles gut überstehen, Ali, glaub mir. Sie ist ’ne zähe Lady - sie weiß es nur noch nicht.«
Ali nickte. »Gute Nacht, Tony.«
»Sicher. Buena notte. Ruf mich, wenn du nicht schlafen kannst oder etwas Merkwürdiges hörst. Sag das auch deiner Mutter.«
»Mach ich.«
Er sah ihr nach, wie sie die Treppe hinaufstieg, und setzte sich dann wieder auf die Couch. Dort saß er eine Weile und massierte nachdenklich sein Bein. Später sammelte er die Waffen ein und trug sie in die Küche. Die .38er war die einzige, aus der geschossen worden war, doch nachdem er sie auseinandergenommen und gereinigt hatte, tat er das gleiche mit den anderen Waffen. Ihm fiel es leichter nachzudenken, wenn seine Hände etwas zu tun hatten.
Ali dachte darüber nach, wie wenig Zeit sie in ihrem eigenen Zuhause verbracht hatte. Inzwischen fühlte sie sich in Tonys Gästezimmer beinahe so wohl wie in ihrem eigenen Schlafzimmer. Sie hatte sich gewaschen und ihre Mutter ins Bett gebracht. Jetzt saß sie in dem Nachthemd, das Frankie ihr mitgebracht hatte, am Fenster und schaute hinaus.
Sie war jung und unverwüstlich, hatte Tony gesagt. Sie selbst war sich dessen nicht so sicher, denn sie handelte meist nach dem Motto: Schieb alles auf die lange Bank und kümmere dich später darum. Darin hatte sie ziemlich viel Übung. Ihr früheres Leben war bei weitem nicht so spannend gewesen wie die Ereignisse in den letzten achtundvierzig Stunden. Doch sie fand, daß sie mit ihnen ebenso verfahren sollte wie mit den anderen Dingen zuvor. Es war sicher nicht einfach gewesen, ständig von einem Ort zum anderen zu ziehen, sich immer wieder an neue Schulkameraden zu gewöhnen, an eine neue Umgebung. Aus diesem Grund hatte sie gelernt, sich nur auf sich selbst zu verlassen. Sie konnte mit sich umgehen. Hatte sie das heute nacht nicht bewiesen? Aber wenn sie so darüber nachdachte ...
Es war schon seltsam. Aber nicht das Mysterium, ganz gleich, ob nun als Hirsch oder als Grünmantel, stand im Vordergrund ihrer Gedanken, sondern das wilde Mädchen Mally mit ihren zerzausten Haaren. Die Frage, wer sie war und was sie eigentlich vorhatte, ließ Ali keine Ruhe.
Lewis hatte sehr wortgewandt dargestellt, wie die Dinge sein sollten, wenn er auch nicht mit der ganzen Geschichte herausgerückt war, während Mally eine lässige Art hatte, mit solchen Dingen umzugehen - was ihre Argumentation ein wenig zu glatt erscheinen ließ. Aber schließlich war es Mally gewesen, die sie zu jenem anderen Ort mitgenommen hatte, von dem Ali immer noch nicht wußte, wo und was er war. Zumindest konnte man so etwas nicht vortäuschen.
Sollte sie also tun, was Mally ihr geraten hatte - das Mysterium mit einem Freudenfeuer zu sich rufen und es befreien? Was aber, wenn sich das als falsch herausstellte? Sie konnte nun mal nicht wissen, was sie zu tun hatte, bis das Mysterium ihr selbst gesagt hatte, was es wollte. Um das herauszufinden, sah Ali keine andere Möglichkeit, als das Mysterium zu sich zu rufen.
Die Vorstellung war aufregend, machte ihr gleichzeitig aber auch ein wenig angst.
Rede mit Tony, sagte sie sich, vielleicht auch mit Lewis - obwohl sie bei ihm vorsichtig sein mußte, was sie sagte. Und was war mit ihrer Mutter? Was sollte sie ihr erzählen? Meine Güte, war das alles verwirrend!
Irgend etwas störte sie bei ihren Gedanken. Es war ein Geräusch - nicht Tommys Flötenspiel, aber es schickte ihr einen ähnlichen Schauer das Rückgrat hinunter. Sie ging zum Fenster und öffnete es. Jetzt hörte sie das Geräusch deutlicher. Es war die Meute - auf der Jagd. Vermutlich war sie immer noch hinter dem Hirsch her. Doch das Geräusch kam näher und näher, und wenig später sah sie sie aus dem Wald hervorpreschen - dunkle Schatten auf der Wiese, erst Hunde, dann Mönche mit Kapuzen. Ali wollte vom Fenster zurückweichen, doch ihre Blicke verhakten sich ineinander, und die Schatten draußen hielten sie nur mit der Kraft ihres Willens am Fenster fest.
Wenn sie unsere Witterung aufnehmen , hörte sie Mally wieder an jenem anderen Ort sagen, glauben sie, auch wir seien von hier. Denn du mußt wissen, daß der Dunkle Mann sie auf die Fährte jedes Mysteriums angesetzt hat. Und wir
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