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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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hatte.
    Er wollte schon hineingehen, blieb aber stehen und bückte sich nach seiner leeren Kaffeetasse. Das Geräusch war so leise, daß er es, wenn er es nicht schon halbwegs erwartet hätte, sicher überhört hätte.
    Es kam aus dem Wald nördlich des Hauses, ein wisperndes Pfeifen, bei dem sich ihm die Haare am Nackenansatz aufrichteten. Die brütenden Gedanken, die ihn plagten, seit Ali gegangen war, wichen einem Schwall stiller Freude. Langsam ließ er sich wieder in den Sessel auf der Veranda sinken und schloß die Augen.
    Das Leben, das seins war, verschwand, und mit ihm seine Sorgen. Das sagte ihm die Musik, doch die Kräfte, die seinen Kopf über Wasser hielten, blieben auch jetzt gegenwärtig. Es gab auch keine Notwendigkeit, sie loswerden zu wollen. Er mußte sie nur auf ein anderes Ziel hin kanalisieren. Zwar würde er vielleicht nie Frieden finden, aber eine gewisse Art von Zufriedenheit lag im Bereich des Möglichen.
    Er seufzte und schob sich in eine bequemere Sitzposition. Die Bewegung störte seine Konzentration, und im nächsten Augenblick war das Geräusch verstummt. Er öffnete die Augen und sah zum Wald hinüber.
    »Eines Tages wird mir dieses Bein nicht mehr so viele Probleme machen«, murmelte er, »und dann komme ich, um dich zu suchen.«
    Als er das Pfeifen zum ersten Mal gehört hatte, glaubte er, es sei ein Vogel, bis ihm klar wurde, daß ein Vogel diese Art Musik nie hervorbringen konnte. Die Melodie schwoll an und sank, einen Moment sanft und getragen, dann hoch und trillernd, aber immer leise, gerade an der Grenze seines Hörvermögens, wobei sie in bebenden Kaskaden die Tonleiter auf- und abstieg. So konnte ein Vogel niemals singen. Immer gleich fern, immer gleich ruhig.
    Manchmal war die Musik so ruhig, daß er sie nicht mehr hören, sondern nur spüren konnte, wie sie ihm von dort draußen zurief. Es lag mehr darin als nur ein Geheimnis. Die Musik versprach ihm etwas, sollte er jemals ihren Ursprung entdecken. Was sie versprach, wußte er nicht, aber es war irgend etwas. Und er wußte, er würde nie bereuen, ihre Quelle gefunden zu haben - wenn er sie jemals fand.
    Lange blieb er noch draußen und lauschte in die Nacht. Doch für diesen Abend war die Musik verstummt, und schließlich ging er ins Haus. Seine Träume in dieser Nacht waren voll verborgener Geschenke, voll von Dingen, die ebenso im verborgenen blieben wie die Musik meist unterhalb seiner Hörschwelle. Ehe er von Malta hierher geflüchtet war, hatte er sich morgens nie an seine Träume erinnern können. Jetzt träumte er oft solche Träume - und konnte sich am nächsten Tag jedesmal daran erinnern.

KAPITEL DREI
    Lewis Dachery las im Schein einer Kerosinlampe. Seine Lippen bewegten sich lautlos, während sein Blick den gedruckten Zeilen über die Seite folgte. Das Buch lag auf dem Küchentisch, und er selbst saß in dem geradlehnigen Holzsessel, den sein Vater gefertigt hatte. Die Lampe warf einen runden Lichtkreis, ließ aber den größten Teil des Zimmers im Dunkeln. An den Wänden waren die Umrisse von Tausenden von Büchern zu erkennen, und der schwache Lichtschimmer reflektierte von den Titeln, die in Gold oder Silber gedruckt waren. Der Tee in der Tasse neben dem Buch war längst kalt geworden. Völlig versunken in das Buch, dauerte es einen längeren Moment, ehe er das Kratzen an der Tür wahrnahm.
    Sein Blick wanderte zu der alten Uhr, ehe er die Brille absetzte und sie auf das Buch legte. Es war kurz nach elf. Er stand langsam auf, denn spät am Abend spürte er die Last seiner achtundsechzig Jahre deutlicher als morgens, und öffnete die Tür.
    »Hallo, Lewis«, sagte sein Besuch.
    Sie huschte ins Zimmer wie eine Katze, machte ein paar rasche Schritte ins Innere und blieb stehen, um forschend in die schattigen Ecken des Zimmers zu schauen. Ein weitkrempiger Schlapphut verbarg den größten Teil ihres Gesichts, und in den dunklen Locken der wirren Haare, die unter dem Hut hervorquollen, hingen kleine Zweige und Reste von Blättern. In den Jeans hatten sich Kletten und Dornen verfangen. Die Jacke war mindestens eine Nummer zu groß für sie.
    Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß das Zimmer außer ihr und Lewis leer war, durchquerte sie den Raum und senkte ihre kleine Gestalt in einen Sessel gegenüber dem Platz von Lewis. Sofort hatte es den Anschein, als hätte sie dort schon den ganzen Abend gesessen, als wäre dies ihr Zimmer und Lewis der gerade eingetroffene Besucher.
    Lewis lächelte und fachte das Feuer

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