Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint

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fortgegangen?«
    »Ach - du bist doch auch jung und weißt sicherlich, wie rastlos junge Menschen sein können. Dieses Dorf wäre wahrscheinlich niemals entstanden, wenn nicht junge Leute aus dem alten New Wolding ebenso rastlos gewesen wären. Auch mein Sohn Peter ist weggegangen - ein Jahr später als Edmond.«
    »Vermissen Sie ihn?«
    Lily betrachtete das Foto ihres Mannes und seufzte. »Ja, sehr sogar. Um so mehr, seit auch Jevon von mir gegangen ist. Ich hoffe darauf, daß er eines Tages zurückkommt, aber ich glaube nicht daran.«
    »Warum nicht?«
    »Lewis sagt, wenn man sich zu lange weit entfernt vom Dorf herumtreibt, findet man den Weg zurück nicht mehr.«
    »Und jedes Jahr werden es weniger im Dorf, nicht wahr?«
    »Leider ja. Schon mein Jevon hat das kommen sehen. Wir haben uns verändert, weißt du. Wir sind zwar nicht träger, aber vergeßlicher geworden. Wir tanzen nur noch um den alten Stein herum - und manchmal kommt das Mysterium, manchmal auch nicht. Früher haben wir dort am alten Stein einen Bullen geopfert; jedes Jahr haben wir das getan.« Sie merkte nicht, daß Ali blaß wurde. »Ich glaube, das sind wichtige Dinge - diese Rituale und das alles. Zu der Zeit, als sie entstanden, hatten wir noch nicht diese ›Komm, wann du willst‹-Einstellung, die wir uns nach und nach angewöhnt haben. Ich glaube, wir wären schon nicht mehr hier, gäbe es nicht das Mysterium, das immer noch zu uns zum Stein kommt.«
    »Sie meinen nicht, man sollte es befreien?«
    »Es freilassen? Du liebe Güte, wer hat dir einen solchen Unsinn in den Kopf gesetzt? Es gibt doch nichts, das es hier festhält. Oder denkst du etwa, ein solches Wesen ließe sich von Menschen wie uns gefangenhalten?«
    »Aber ich dachte ... ich dachte, es seien die Dorfbewohner, die es hier festhielten. Durch Tommys Flötenspiel und all dies.«
    »Du hast mit Lewis gesprochen«, erklärte Lily. »Aber Lewis grübelt zuviel. Er hätte am liebsten für alles eine genaue Erklärung, aber damit ist es eben nicht getan. Wir reden hier von einem Mysterium. Ich liebe Lewis wie einen Bruder, Ali, aber manchmal möchte ich ihm einfach den ganzen Unsinn aus dem Kopf herauspusten.«
    »Mally behauptet auch, daß es durch etwas festgehalten wird.«
    »Ach ja, das wilde Mädchen. Wo bist du gestern abend mit ihm gewesen, Ali? Wir haben uns alle sehr große Sorgen um euch gemacht.«
    Ali zuckte die Schultern. »Einfach nur - weg.«
    Lilys Blick bekam einen verträumten Ausdruck. »Ich habe immer davon geträumt. Von dem Hirsch, der mich auf seinem Rücken davonträgt ...« Nach diesen Worten verstummte sie, tief in Gedanken versunken. Dann blinzelte sie und schaute Ali an. »Ich bin hier keineswegs unglücklich, verstehst du. Aber ich denke, in uns allen steckt ein wenig von Lewis. Ich wüßte gern, wohin das Mysterium in seiner Hirschgestalt geht. Es muß ein sehr ungewöhnlicher Ort sein.«
    Ali brachte es einfach nicht fertig, ihr von dem wilden Waldland und den runden Steinformationen zu erzählen. »Wir sind weit geritten«, meinte sie nur.
    »Da bin ich sicher. Aber verrate mir doch - möchtest du gern wieder dorthin zurück, wo er euch hingetragen hat, oder bist du in unserer Welt immer noch zufrieden?«
    »Ich ...« Sie hatte lange Zeit sehr große Angst gehabt, stellte Ali im nachhinein fest, und hatte dann noch mehr Zeit mit Mally geredet. Eigentlich hatte sie von diesem ungewöhnlichen Ort herzlich wenig wahrgenommen. Sie erinnerte sich an den Mond - wie groß und niedrig er am Himmel gestanden hatte - und daß die Sterne zum Greifen nahe schimmerten. Der Frieden, der von diesen Steinen ausgegangen war, diese unglaubliche Luft ... »Ich würde gern dorthin zurückkehren«, sagte sie.
    In ihrer Stimme schwang eine leichte Sehnsucht mit, und Lily nickte. »Das habe ich mir gedacht. Es ist sicher so, wie die Märchen das Land der Feen beschreiben. Hat man einmal den Fuß in das Mittlere Königreich gesetzt, ist man niemals mehr in den Breiten der Menschen zufrieden.«
    »Schon möglich.«
    Lily nickte erneut. »Und doch glaube ich, daß ich auch gern dorthin gegangen wäre - nur ein einziges Mal.«
    Es war einfach nicht gerecht, dachte Ali. Sie war schon dort gewesen - und dabei war sie noch ein Kind und hatte ihr ganzes Leben vor sich. Während diese alte Frau ... So viele Jahre lebte sie schon und hatte nicht einmal einen Blick auf jenen Ort werfen können - wenn sie ihn nicht in Tommys Musik oder in der Gegenwart des Hirschs erlebte.
    Was würde