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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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ob es ein Junge oder Mädchen war, konnte sie wegen des breitkrempigen Schlapphutes nicht erkennen. Auch das lange Haar gab da keinen Aufschluß. Und dann sah Ali, womit die Gestalt herumspielte. Es war ihr Walkman!
    Das Kind hatte Nerven! Erst stahl es ihren Walkman, und dann hockte es sich fast vor die Hintertür und spielte damit herum. Ali warf das Fernglas aufs Bett, sprang die Treppe hinunter und stürmte aus der Vordertür. Sie rannte um das Haus herum auf die Straße, die zu Tonys Haus führte, und hielt sich dicht an den mit Buschwerk bewachsenen Graben. Dabei nutzte sie jede Deckung, die sich ihr bot. Jetzt zahlt es sich aus, daß ich mir immer die Westernfilme im Spätprogramm anschaue, dachte sie. Sie war jetzt Ali Wayne, die die Banditen verfolgte - Clint Treasure, die ihr Opfer in die Enge trieb.
    Sie arbeitete sich näher heran und versuchte dabei jedes Geräusch zu vermeiden. Wenig später mußte sie feststellen, daß ihre Annäherung ebensowenig bemerkt worden wäre, wenn sie mit dem Fahrrad gekommen wäre. Die Kleine - zum Glück war es nicht irgend so ein muskelbepackter Bauernlümmel - trug die Ohrhörer und lauschte dem Band, das Ali beim letzten Mal in dem Gerät gelassen hatte. An ihrem Gesichtsausdruck konnte Ali nicht feststellen, ob ihr die Musik von Flashdance gefiel oder nicht. Jedenfalls sah sie so aus, als habe sie nie zuvor in ihrem Leben solche Musik gehört.
    Vielleicht stimmte das sogar, dachte Ali. Wenn man hier draußen lebte, war alles möglich. Sie arbeitete sich näher heran und achtete sorgsam darauf, nicht in das Blickfeld des Mädchens zu geraten. Sie war nur noch wenige Fuß entfernt, als das Mädchen sich herumdrehte. Entweder war das Band zu Ende, oder sein sechster Sinn hatte es gewarnt. Doch ehe die Kleine davonlaufen konnte, stürzte sich Ali auf sie und warf sie zu Boden. Der muskulöse Körper unter ihr bäumte sich auf, seine Bewegungen waren schnell wie die einer Katze. Das Mädchen riß die Hand hoch, um Ali mit den langen Nägeln das Gesicht zu zerkratzen, hielt aber ein paar Inches vor ihren Augen inne.
    Die beiden Mädchen starrten sich an. Ali versuchte ihre Furcht zu verbergen. Das fremde Mädchen hatte den wachsamen Blick eines wilden Tiers.
    Langsam stand Ali auf und trat einen Schritt zurück. »D ... der gehört mir«, stotterte sie und zeigte auf den Walkman. »Du hast ihn mir gestohlen.« Dabei hoffte sie, daß die andere ihr Zittern nicht bemerkte.
    »Ich habe ihn nicht gestohlen«, sagte das Mädchen und setzte sich auf. Dabei rutschten ihm die Ohrhörer in den Schoß. »Ich habe ihn gefunden.«
    »Du hast ihn in meinem Zimmer gefunden!« schrie Ali, deren Wut wieder die Oberhand gewann.
    Das Mädchen zuckte die Schultern. »Ich habe ihn nur ausgeliehen. Ich wollte ihn zurückbringen.«
    »Wer bist du überhaupt?« fragte Ali. »Erst spionierst du uns die ganze Zeit nach, und jetzt stiehlst du auch noch. Ich sollte einfach die Cops rufen.«
    Das Mädchen gab Ali den Walkman zurück. »Ich heiße Meggan. Mally Meggan. Und ich habe euch nicht nachspioniert - ich habe nur euer Haus beobachtet.«
    »Das ist das gleiche wie Spionieren.«
    Wieder zuckte Mally die Schultern. »Ich beobachte das Haus schon, seit der Dunkle Mann es gebaut hat.«
    »Der Dunkle Mann? Wer ist das? Mein Großvater?«
    »Ich weiß seinen Namen nicht. Er war eben ein dunkler Mann.«
    »Er war ein Schwarzer?«
    Mally schüttelte den Kopf. »Er war schwarz hier drin«, sagte sie und zeigte mit der kleinen Hand auf ihr Herz. »Er ist der, der die Musik entschlüsselte, und seitdem ist nichts mehr, wie es war. Menschen sind weggezogen, und es kommen keine neuen mehr. Das alles ist seine Schuld.«
    »Bist du diejenige, die die Musik spielt?« fragte Ali. »Das Flötenspiel, das ich manchmal abends höre?« Sie setzte sich neben die Kleine und tastete an dem Walkman in ihrer Hand herum.
    »Nein, das ist Tommy. Ich gehöre nicht dazu.« Dann lächelte Mally plötzlich.
    Ali schüttelte verständnislos den Kopf. Die Worte der Kleinen ergaben keinen Sinn. »Wohnst du hier in der Gegend?« nahm sie einen neuen Anlauf.
    »Da drüben.« Mally machte eine ausholende Handbewegung, die fast die ganze Umgebung einschloß.
    »Mit Tommy?«
    »Nein, er wohnt bei den anderen. Ich lebe allein.«
    »Aber wo lebst du?«
    »Im Wald.«
    »Ganz allein?«
    Mally nickte.
    »Vermutlich hast du dort eine Hütte oder so was.«
    »Nein, direkt im Wald. Verstehst du, ich bin ein Geheimnis.«
    Ali schüttelte den

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