Grünmantel
könnte ich immer noch zu Tony rübergehen und mir bei ihm einen Film oder sonstwas ansehen, bis du zurückkommst.«
Frankie warf einen Blick auf die Küchenuhr. Fünf nach zwei. Sie hatte Joy versprochen, spätestens gegen halb vier bei ihr zu sein, und sie mußte sich noch umziehen.
»Mom?«
»Also schön. Aber ruf ihn jetzt gleich an, während ich mich umziehe.«
Ali nickte. »Ich werde ihn fragen, ob ich später am Nachmittag zu ihm kommen kann, denn ich muß noch Hausaufgaben machen und ein paar andere Sachen erledigen.«
»Schön.« Frankie war schon halb auf der Treppe.
Als sie wieder herunterkam, stand Ali an der Haustür und hielt ihr die Tasche und die Wagenschlüssel entgegen.
»Tony sagt, es ist okay«, erklärte sie. »Ich werde gegen Abend zu ihm gehen.«
»Paß bloß auf, daß du ihm nicht zu sehr auf die Nerven gehst«, meinte Frankie und nahm Ali Tasche und Schlüssel ab.
»Aber Mom!«
Frankie schenkte ihrer Tochter einen zerknirschten Blick. »Tut mir leid, Ali. Ich vergesse immer, wie groß du schon bist. Hör zu, ich bin so schnell wie möglich wieder zurück, in Ordnung? Trotzdem kann es etwas später werden, also bleib nicht auf und warte nicht auf mich.«
»Wann soll ich wieder zu Hause sein?«
»Ach, das hatte ich schon wieder vergessen - du bist ja bei Tony. Um welche Zeit geht er zu Bett, weißt du das?«
Ali schüttelte den Kopf.
»Also, warte bei ihm auf mich, wenn er damit einverstanden ist«, sagte Frankie, die nicht wollte, daß ihre Tochter so spät am Abend noch allein auf der einsamen Straße unterwegs war.
»Mach dir um mich keine Sorgen. Sollte ich müde werden, kann ich bestimmt auf seinem Sofa schlafen.«
Frankie nickte. Gott sei Dank hatte sie Tony ja am Abend zuvor besser kennengelernt. Am Anfang war sie wegen Alis Freundschaft mit dem Mann ein wenig besorgt gewesen, doch inzwischen hatte sie einen ziemlich guten Eindruck von ihm. Sie spürte, daß sie ihm vertrauen konnte, und machte sich um Ali keine Sorgen mehr. Rasch umarmte sie ihre Tochter. »Sei brav.«
»Klar. Fahr nicht zu schnell, damit du keinen Unfall baust.«
Ein kurzes Lächeln huschte über Frankies Gesicht. »Ich passe schon auf, Mutti!«
»Du fährst jetzt besser, sonst kommst du noch zu spät.«
Frankie nickte gehorsam und eilte zum Wagen.
Länger als eine Stunde konnte Ali sich nicht auf ihr Biologiebuch konzentrieren. Biologie war eins ihrer Lieblingsfächer, aber manche Tage waren einfach nicht zum Lernen geeignet. Sie hatte keine Lust mehr, ihre handschriftlichen Notizen zu entziffern, das Lehrbuch war ähnlich aufregend wie eine Erkältung, das Haus zu still - und sie hatte das Gefühl, eingesperrt zu sein. Es wurde Zeit, nach draußen zu gehen und die Photosynthese in natura zu studieren, Zeit, sich echte Insekten statt Vergrößerungen von mikroskopisch kleinen Sporen anzusehen. Zeit, Blätter und Rinde zu sammeln - kurz gesagt, es war Zeit für ein paar praktische Erfahrungen im Freien.
Als erstes machte sie sich daran, die Erde in dem Teil des Gartens umzugraben, den sie mit ihrer Mutter am Morgen für ein Gemüsebeet ausgewählt hatte. Tony hatte ihr allerlei Samen gegeben, und sie freute sich darauf, ihren ersten eigenen Garten anzulegen. Sie stapelte die ausgestochenen Grassoden, um sie später im Vorgarten des Hauses zu verteilen, doch als sie mit dem Umgraben fertig war, fühlte sie sich so erhitzt und verschwitzt, daß sie sie an Ort und Stelle liegen ließ. Morgen ist auch noch ein Tag, dachte sie. Sie brauchte jetzt eine Dusche.
Im Haus lief sie gleich nach oben, um sich auszukleiden. Sie zog ihr T-Shirt aus, während sie aus dem offenen Fenster nach draußen schaute, und überlegte, wie schön es doch war, sich am Fenster auszuziehen, ohne Bedenken haben zu müssen, daß jemand ihr dabei zusah.
Sie warf ihr T-Shirt in die Ecke und wollte gerade ihre Shorts ausziehen, als sie innehielt. Sie glaubte, zwischen den Bäumen hinter dem Haus eine Bewegung gesehen zu haben. Rasch trat sie vom Fenster zurück und streifte sich wieder das T-Shirt über. Vielleicht ist es der Hirsch, dachte sie und holte rasch ihr Fernglas. Sie stellte es scharf ein und richtete es auf das Objekt ihres Interesses. Sofort erkannte sie, daß es nicht der Hirsch war. Es sah eher aus wie ein Mensch. Ali runzelte die Stirn, während sie die Gestalt betrachtete und dabei an jenen Morgen dachte, an dem schon einmal jemand das Haus beobachtet hatte.
Es konnte kein Erwachsener sein, entschied Ali, aber
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