Grünmantel
Kopf und seufzte. Das war ihr alles zu merkwürdig. »Wenn du ein Geheimnis bist, wie kommt es dann, daß du dich mir gezeigt hast?«
»Das habe ich nicht - du hast mich erwischt.«
»Aber du erzählst mir all diese Dinge ...«
»Hör zu«, unterbrach Mally sie. »Du hörst die Musik, nicht wahr?«
»Ja, ich habe sie ein- oder zweimal gehört.«
»Und der Hirsch ist zu dir gekommen, richtig?«
Ali nickte.
»Die Musik erweckt etwas in denen, die sie hören können. In dir hat sie ein Licht entzündet. In anderen erweckt sie etwas nicht so Schönes.«
»Wie zum Beispiel deinen Dunklen Mann?«
»Genau.«
»Aber ...«
Abrupt stand Mally auf - mit einer blitzschnellen, geschmeidigen Bewegung, die Ali völlig überraschte. »Der Hirsch ist eines der Mysterien der Welt«, erklärte Mally. »Ich bin nur ein Geheimnis. Und dein Name ist ein Teil von meinem. Als wir uns begegneten, kannten wir uns also schon - zum Teil. Ist das nicht so?«
Ali schüttelte den Kopf. »Ich begreife das nicht ganz«, begann sie, doch Mally unterbrach sie.
»Vielleicht jetzt noch nicht. Aber du wirst es begreifen - oder würdest es begreifen. Das kommt ganz darauf an.«
»Worauf?«
»Auf die Person, die zu sein du lernen wirst.«
Ehe Ali etwas erwidern konnte, lüftete Mally ihren Hut und verbeugte sich leicht. Ali starrte auf die beiden kleinen Hörner, die aus den Locken hervorragten.
»D ... du ... hast ...«
»Viele Dinge«, antwortete Mally. »Aber leider keine Maschine mehr, die Tommys Flötenspiel nachahmt. Good bye, Ali.«
Langsam wich sie zurück, und ein Lächeln huschte über ihr Fuchsgesicht.
»Nein!« rief Ali. »Warte eine Sek ...«
Die Worte erstarben ihr im Mund, als das wilde Mädchen sich umdrehte und wie der Blitz im Wald verschwand. Ali sah ihr nach, überrascht von der Geschwindigkeit und der katzenhaften Gewandtheit. Mally schien zwischen den Bäumen zu schweben wie der Hirsch - oder eher wie eine Katze - und war in Sekundenbruchteilen verschwunden.
Ali betrachtete den Walkman in ihren Händen und dann wieder die Stelle, an der Mally verschwunden war. Ich glaube, ich werde verrückt, dachte sie. Das ist doch alles nicht wahr, ist doch nicht wirklich geschehen. Ich bin doch keinem Mädchen mit Hörnern begegnet, das zerrissene Kleider voller Kletten trug. Keinem Mädchen mit verfilztem Haar und Katzenaugen ...
Sie stand zitternd auf, halbwegs bereit, dem wilden Mädchen zu folgen. Dann drehte sie sich um und ging langsam nach Hause.
In der Küche legte sie den Walkman auf den Tisch und setzte sich auf einen Stuhl. Sie fühlte sich völlig erschöpft und versuchte sich ständig einzureden, daß solche Dinge im wirklichen Leben nicht vorkamen. So etwas gab es nur im Märchen. Nur in den Büchern von Alan Garner oder den Geschichten von Caitlin Midhir begegneten Kinder magischen Wesen, aber nicht hier und jetzt.
Und doch ... Sie seufzte und versuchte, die Sache vernünftiger zu sehen. Abgesehen von den Hörnern war es doch nur eine seltsame Begegnung gewesen, oder? Ein merkwürdiges Ereignis. Außer den Hörnern. Vielleicht waren sie auch nur eine Imitation. Vielleicht hatte Mally nur so getan, als wären sie echt, um sie zu verwirren. Aber das wilde Mädchen hatte sich zudem so blitzschnell bewegt. So schnell hatte sie noch nie einen Menschen verschwinden sehen. Es war ...
Das Telefon klingelte, und Ali fuhr erschrocken von ihrem Stuhl hoch. Mit zitternder Hand hob sie den Hörer ab und meldete sich. »H ... hallo?«
»Hallo, Ali. Ich dachte, du kämst zum Abendessen.«
Es war Tony. Ali warf einen Blick auf die Küchenuhr. Schon zehn nach sechs. Sie war spät dran.
»Jesus, Tony. Ich habe die Zeit vergessen.«
»Also kommst du noch, oder?«
»Ich bin schon unterwegs.«
»He, bist du in Ordnung, Kind? Du hörst dich so seltsam an.«
»Nein, alles in Ordnung. Ich dusche nur noch schnell, dann komme ich.«
»Okay, aber mach nicht so lange. In einer Stunde ist es dunkel, und deiner Mutter wird es nicht gefallen, daß du allein durch die Nacht läufst.«
Ali dachte an Mädchen mit Hörnern und an Hirsche, an die Musik, die, wenn überhaupt, in der Dämmerung ertönte, und sie erschauerte.
Mehr noch als die Mutter mochte sie selbst nicht allein draußen durch die Dunkelheit laufen.
»Ich beeile mich.«
KAPITEL ZWÖLF
Am Sonntagnachmittag stahlen Earl und Howie einen Toyota in Nepean und verließen Ottawa auf dem Queensway. Die Sonne stand schon tief im Westen und schien ihnen direkt in die Augen,
Weitere Kostenlose Bücher