Grundlagen Kreatives Schreiben (German Edition)
ist aber auch möglich, eine Nebenfigur erzählen zu lassen. Ein Beispiel findet man in „Der große Gatsby“ von F. Scott Fitzgerald, hier ist es Nick Carraway, der die Geschichte erzählt, der Nachbar von Gatsby und Cousin von Gatsbys Angebeteter Daisy. Als Beobachter, der vom Rand aus dem Drama zuschaut, hat er sowohl die nötige Distanz als auch die Nähe zu den anderen Figuren und die Einblicke, um der bestmögliche Erzähler dieser Geschichte zu sein. Besonders wenn der Protagonist sein Handeln nicht reflektiert, ist die Nebenfigur die bessere Wahl. Sie darf auch Ironie oder Skepsis an den Tag legen, obwohl Sympathie bis Faszination ihre Beziehung zur Hauptfigur prägen sollte.
Mehr als ein Ich: die Multiperspektive
Um eine längere Geschichte zu erzählen, kann man auch zwei oder mehr Ich-Erzähler einsetzen. Das hat den Vorteil, dass man die Geschichte durch sehr unterschiedliche Blickwinkel beleuchten kann. Dies eignet sich besonders gut, um zu unterstreichen, dass es nicht einfach die eine Wahrheit gibt, von der man erzählen will. Stattdessen müssen sich die Leser die Puzzleteile der Geschichte selber zusammensetzen und eigenständig ihre Sicht der Dinge entwickeln.
Damit diese Multiperspektive funktioniert, sollten die Ich-Erzähler sehr verschieden voneinander sein, sonst würden sich die unterschiedlichen Blickwinkel auch nicht lohnen. Wichtig ist auch, ihnen eigene, gut zu unterscheidende Stimmen zu verleihen. Um die Leser nicht zu verwirren, sollten in der Regel nicht zu viele unterschiedliche Ich-Erzähler eingesetzt werden und die Perspektive darf nicht innerhalb eines Absatzes geändert werden. Häufig entscheiden Autoren sich dafür, die Perspektive kapitelweise zu wechseln und über das Kapitel den Namen der erzählenden Figur zu setzen, so wie es Lily Archer in ihrem Jugendroman „Der Schneewittchen-Club“ macht:
Alice Bingley-Beckerman
Am Anfang schien R. ganz nett zu sein. Sie lud mich und Paps zu sich nach Hause zum Essen ein, und den Großteil des Abends standen wir in ihrer Wohnung an der Upper West Side herum und sahen ihr beim Kochen zu. […]
Reena Paruchuri
Ich hasse Yoga. Ich habe Yoga immer gehasst. Ich meine, mal im Ernst. Wer hat Lust, zehn Minuten lang, ohne zu wackeln, auf einem Bein zu stehen? […]
Der unzuverlässige Ich-Erzähler
Ein Ich-Erzähler sollte die Leser nicht betrügen, zum Beispiel Informationen zurückhalten, um künstlich Spannung aufzubauen. Aber er darf unzuverlässig sein. Im Grunde ist sogar jeder Ich-Erzähler unzuverlässig, denn alles, was er sagt, ist höchst subjektiv. Im Sonderfall des unzuverlässigen Ich-Erzählers merken die Leser bald, dass diesem Ich nicht zu trauen ist. Man kann beispielsweise einen Gewohnheitslügner oder einen Psychopathen als Ich-Erzähler einsetzen. Den Lesern fällt dann auf, dass dessen ganz eigene Sicht auf die Welt sich von der Sicht der anderen Figuren unterscheidet. Als Autor muss man zwei Versionen der Wahrheit kreieren. Das ist schwierig, aber effektvoll und sehr interessant.
Sonderform des Ich-Erzählers: Rollenprosa
Bei der Rollenprosa handelt es sich um eine besondere Form der Ich-Erzählung. Hier steht der Erzähler im Mittelpunkt, der Text ist eine Art innerer Monolog, der sehr direkt die Gedanken der Figur wiedergibt. Es wird nicht szenisch erzählt, sondern ausschließlich aus dem Kopf des Erzählers heraus. Die Sprache der Figur muss sehr ausdrucksstark und unverwechselbar sein und natürlich sollte man ihr auch über eine längere Strecke gerne zuhören wollen. Achten Sie beim Beispiel von Marieluise Fleißner darauf, wie Emil allein durch seine Sprechweise in einem Milieu verortet wird:
„ Wie ich beim Maurern gewesen bin, habe ich immer viel Steine heben müssen. Davon habe ich Hände bekommen, wo ich das Feinere nicht mehr damit spürte. Und wenn mir ein Kamerad die Hand gab, habe ich immer nichts in der Hand gehabt. Ich dachte, Emil, jetzt bist du schön der Blamierte, und wenn du an einem Mädel herumlangst, und tust ihr weh, dan n kennst du es nur am Schreien.“
(Marielouise Fleißner: Abenteuer aus dem Englischen Garten)
Die personale Erzählperspektive
Wenn man in einer Geschichte die personale Erzählperspektive verwendet, dann ist das so, als ob der unsichtbare Erzähler in einer Kamera steckt, die der Figur auf den Kopf geschraubt wurde. Er kann berichten, was die Figur tut und was sie wahrnimmt, und er kann in sie hineinschauen, was sie
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