Grundlagen Kreatives Schreiben (German Edition)
Wie kurz muss eine Geschichte sein, damit sie nicht nur eine Kurz-, sondern sogar eine Kürzestgeschichte ist? Eine genaue Definition kann niemand nennen, Hemingway brauchte nur sechs Wörter, andere sprechen von einer Obergrenze von einhundert oder tausend Wörtern, doch was sind schon Zahlen? Stärker als die Anzahl der Wörter prägen der Aufbau und die Form eine Kürzestgeschichte und heben sie von anderen Textformen ab.
Was die Kürzestgeschichte charakterisiert
Der amerikanische Kritiker Irving Howe schrieb einmal, Kürzestgeschichten bescherten uns einen Moment, aus dem uns die Unmittelbarkeit anblinzelt. Sein Landsmann William Peden verglich sie mit dem Öffnen und Schließen eines Fensters, für ihn ähneln sie einem Augenblick der Hereinsicht.
Kürzestgeschichten ist zu eigen, dass sie in wenigen Worten das Wesentliche einer Situation oder eines Augenblicks offenbaren. Sie können wie ein Schnappschuss oder ein Einzelbild sein. Dabei kommen sie schnell zum Kern der Geschichte, für längere Einleitungen gibt es keinen Raum. Sie sind in sich geschlossen, das heißt, sie können bei aller Knappheit stets für sich alleine stehen.
Kürze, Intensität, Überraschung
Wenn ein Text möglichst kurz sein soll, erhält dadurch jedes einzelne Wort ein umso größeres Gewicht. Keines darf überflüssig sein, jedes sollte so präzise sein, wie es nur geht . Eine Möglichkeit, um auf geringem Raum viel auszudrücken, kann in einer metaphorischen oder poetischen Sprache liegen. Auf diese Weise lassen sich Verbindungen aufbauen zwischen ursprünglich unzusammenhängenden Dingen.
Wenn wir schon bei Bildern sind: Eine Kürzestgeschichte kann man auch als eine Art Dampfkochtopf betrachten. Von außen kann sie unscheinbar wirken, aber in ihrem Inneren brodelt es. Sie erzählt nicht von beliebigen, banalen Dingen, sondern sie enthält eine Dringlichkeit, etwas, das unbedingt mitgeteilt werden sollte. William Peden wählte das Bild vom Fenster und der Hereinsicht, und um Einsichten und Erkenntnisse geht es – wenn auch häufig unter der Oberfläche der Erzählung.
Eine Kürzestgeschichte ist zwar schnell gelesen, doch sie enthält genug Platz für eine Überraschung. Häufig ereignet sich in der Mitte oder am Ende des Textes eine Drehung, die die Richtung der Geschichte verändert oder ihr eine neue Bedeutung verleiht. Die Überraschung könnte jedoch auch durch die Stimme des Erzählers, die Erzählperspektive, den Ton des Textes gegeben sein oder gerade durch das, was nicht geschieht.
Figuren in der Kürzestgeschichte
Jeder kann Figur sein – natürlich gibt es keine Regeln oder Beschränkungen. Wählen Sie Menschen, Tiere, unbelebte Dinge … sie können als Individuum gestaltet sein oder als ein Symbol für etwas anderes auftreten. Die Kürzestgeschichte ist jedoch nicht lang genug, um die Figuren eine Entwicklung durchlaufen zu lassen oder auch nur, um sie gründlich zu charakterisieren. Mit wenigen Worten muss man die Figur so darstellen, dass die Leser einen kurzen Blick auf ihre Wesensart werfen können. Mehr als eine – die wichtigste – Charaktereigenschaft lässt sich dabei kaum darstellen. Diese Eigenschaft kann man im Handeln der Figur, in ihren Gedanken und Gefühlen veranschaulichen.
Der Handlungsverlauf in der Kürzestgeschichte
Von einem Handlungsverlauf in einer Kürzestgeschichte zu sprechen ist um ein Haar schon eine Übertreibung. Die Handlung entwickelt sich bei dieser stark komprimierten Textform nur ansatzweise. Wie ein Blitzlicht, das aufleuchtet und eine Szene erhellt, zeigt die Kürzestgeschichte eine bestimmte Situation oder die Umstände zu einem bestimmten Zeitpunkt. Für eine Einleitung bleibt, wie oben erwähnt, keine Zeit, man springt in die Geschichte hinein. Alles läuft auf den Höhepunkt zu, den entscheidenden Moment, auf den die Leser warten, der eine Veränderung mit sich bringt – oder sie gerade ausbleiben lässt.
Literaturempfehlungen
Alle Theorie reicht natürlich nicht. Wer Kürzestgeschichten schreiben möchte, sollte möglichst vielfältige kennenlernen. Eine bunt gemischte Auswahl trifft man in diesen beiden empfehlenswerten Büchern an:
Franz Hohler (Hrsg.): 112 einseitige Geschichten. München 2007. Broschiert, 128 Seiten. EUR 7.
Eine internationale Auswahl, nicht alles sind reine Kürzestgeschichten, manches sind Ausschnitte aus einem längeren Text, doch das mindert nicht den Unterhaltungs- und
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