Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
dasaß, kopfschüttelnd,
weil sie sich Vorwürfe machte, das, was in Leni steckte, nicht zutage gefördert zu haben. Immer wieder sagte sie: »Es steckte
was in ihr, was Starkes sogar, aber wir haben es nicht zutage gefördert.« Schwester Columbanus – promovierte Mathematikerin,
die heute noch (mit der Lupe!) Fachliteratur liest – war ganz der Typ aus einer früh emanzipierten Epoche weiblichen Bildungsdranges,
der leider im Nonnenhabit so wenig erkannt und noch weniger gewürdigt wird. Höflich nach Details ihres Lebenslaufs gefragt,
erzählte sie, daß sie schon 1918 in Sackleinen herumgelaufen sei und mehr verspottet, verachtet, verhöhnt worden sei als heutzutage
mancher Gammler. Als sie vom Verf. Einzelheiten aus Lenis Lebenslauf erfuhr, leuchteten ihre ermatteten Augen ein wenig auf,
sie sagte, seufzend, doch mit einem Anflug von Begeisterung: »Extrem, ja extrem – so mußte ihr Leben verlaufen.« Eine Bemerkung,
die den Verf. stutzig machte. Beschämt blickte er beim Abschied auf die vier provozierend vulgär in Asche gebetteten Zigarettenkippen
in einem weinlaubförmigen Keramikaschenbecher, der wahrscheinlich selten benutzt wird, in |36| dem lediglich hin und wieder eine Prälatenzigarre erkalten mag.
Die zweite Nonne, Schwester Prudentia, war Lenis Deutschlehrerin gewesen; sie war eine Spur weniger vornehm als Schwester
Columbanus, eine Spur rotwangiger, womit nicht gesagt ist, sie sei rotwangig, nur: daß ihre frühere Rotwangigkeit noch durchschien,
während Schwester Columbanus’ Gesichtshaut eindeutig eine schon in der Jugend getragene Dauerblässe ausstrahlte. Schwester
Prudentia (ihr Ausruf, als sie Lenis Namen hörte, siehe oben!) steuerte ein paar überraschende Details bei. »Ich hab ja«,
sagte sie, »alles getan, um sie auf der Schule zu halten, aber es war nicht zu machen, obwohl ich ihr doch in Deutsch eine
Zwei gegeben habe und auch geben konnte; sie hat nämlich da einen ganz großartigen Aufsatz über ›Die Marquise von O. ..‹ geschrieben,
wissen Sie, eine Lektüre, die nicht erlaubt war, sogar sehr ungern gesehen, weil sie doch einen heiklen Inhalt hat, sozusagen
– aber ich fand und finde, vierzehnjährige Mädchen sollten sie getrost lesen und sich ihre Gedanken drüber machen –, und da
hat die Gruyten was ganz Großartiges geschrieben: sie hat nämlich eine flammende Verteidigung des Grafen F... geschrieben,
eine Einfühlungsfähigkeit in die – na sagen wir, männliche Geschlechtlichkeit, die mich überrascht hat – großartig, und es
war fast eine Eins –, aber da war das Mangelhaft, eigentlich eine interpolierte Sechs, in Religion, weil man dem Mädchen doch
eine Sechs in Religion nicht antun wollte, und ein saftiges, sachlich ganz sicher berechtigtes Mangelhaft in Mathematik, das
Schwester Columbanus ihr mit zwei weinenden Augen, aber weil sie doch gerecht sein mußte, geben mußte – und weg war die Gruyten
... ging ab, mußte abgehen.«
Von den Schwestern und Lehrerinnen des Pensionats, auf dem Leni von ihrem vierzehnten bis fast siebzehnten Jahr |37| ihre Bildung fortsetzte, war nur noch die dritte der hier präsentierten Nonnen, Schwester Cecilia, aufzutreiben. Sie war es,
die Leni zweiundeinhalb Jahre lang privat Klavierunterricht erteilte; Lenis Musikalität sofort ahnend, entsetzt aber, geradezu
verzweifelt über ihre Unfähigkeit, Noten zu lesen, gar in der gelesenen Note den ausgedrückten Ton zu erkennen, verbrachte
sie die ersten sechs Monate damit, Leni Schallplatten vorzuspielen – und sie einfach das Vorgespielte nachspielen zu lassen,
ein, wie Schwester Cecilia sagte, zweifelhaftes, aber gelungenes Experiment, das sogar – so Schwester Cecilia – bewies, »daß
Leni in der Lage war, nicht nur Melodien und Rhythmen, sogar Strukturen zu erkennen«. Wie aber – unzählige Seufzer der Schwester!
– Leni das unumgängliche Notenlesen beibringen? Sie kam auf die – fast schon geniale Idee – es auf dem Umweg über die Geographie
zu versuchen. Zwar war der Geographieunterricht ziemlich mager – er bestand hauptsächlich im Aufsagen, Aufzeichnen und immer
wieder Abbeten aller Nebenflüsse des Rheins unter gleichzeitigem Abbeten der durch diese Flüsse begrenzten Mittelgebirge oder
Landschaften –, und doch: Karten zu lesen, hatte Leni gelernt: diese so sehr gewundene schwarze Linie zwischen Hunsrück und
Eifel, die Mosel, wurde von Leni doch durchaus nicht nur als schwarze gewundene
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