Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
nur ein einziger Müllwagen gegen diese Laterne oder diesen Baum hier fährt«. Doch sei es
besser, einen zweiten Müllwagen einen Auffahrunfall verursachen zu lassen. »Das dauert mit Polizei und allem Drum und Dran
vier bis fünf Stunden.« Bogakov wurde daraufhin von Schirtenstein umarmt; gefragt, ob er ihm einen Wunsch erfüllen könnte,
antwortete Bogakov, es sei sein höchster, fast letzter Wunsch – denn er fühle sich elend –, noch einmal »Lili Marleen« zu
hören. Da er Schirtenstein vorher nicht gekannt hat, darf hier keine Bosheit, lediglich eine gewisse russische Naivität unterstellt
werden. Schirtenstein erblaßte, bewies aber, daß er ein Gentleman ist, indem er sofort ans Klavier ging und »Lili Marleen«
spielte – wahrscheinlich zum erstenmal seit ungefähr fünfzehn Jahren. Er spielte es korrekt. Gefallen an dem Lied zeigten
außer dem zu Tränen gerührten Bogakov der Türke Tunç, Pelzer und Grundtsch. Lotte und Frau Hölthohne hielten sich die Ohren
zu, M. v. D. kam grinsend aus der Küche.
Tunç, wieder sachlich werdend, erklärte, er würde den simulierten Unfall übernehmen, er führe schon acht Jahre unfallfrei
zur Zufriedenheit des städtischen Fuhrparks, er könne sich einen Unfall leisten, müsse aber seine Route |440| ändern bzw. tauschen; dazu bedürfe es nur einer Absprache, die zwar schwierig, aber nicht unmöglich zu bewerkstelligen sei.
Inzwischen war das Finanzkomitee zur Klarheit durchgedrungen. »Aber«, sagte Frau Hölthohne, »machen wir uns nichts vor, es
ist eine fürchterliche Klarheit. Die Hoysers haben alles zusammengekratzt, haben auch fremde Schuldverpflichtungen aufgekauft,
das Gas- und Wasserwerk liegt mit dabei. Es kommt insgesamt eine Summe von – erschrecken Sie nicht – sechstausendachtundsiebzig
Mark und dreißig Pfennigen zusammen.« Übrigens beweise das Defizit, das sich fast exakt mit dem Verdienstausfall durch Levs
Verhaftung decke, daß Leni durchaus in der Lage sei, ihren Haushalt auszugleichen; insofern sei hier kein verlorener Zuschuß,
lediglich ein Darlehen nötig. Sie zog ihr Scheckbuch, legte es auf den Tisch, schrieb einen Scheck aus und sagte: »Zwölfhundert
fürs erste. Mehr kann ich im Moment nicht. Ich habe mich an italienischen Langstielern überkauft, Pelzer, Sie wissen ja, wie
das ist.« Pelzer konnte sich, bevor auch er sein Scheckbuch zückte, einen moralisierenden Kommentar nicht verkneifen. Er sagte:
»Hätte sie mir das Haus verkauft, der ganze Ärger wäre nicht gekommen, aber ich geb fünfzehnhundert. Und« – das mit einem
Blick auf Lotte – »ich hoffe, daß ich nicht nur dann kein Paria mehr bin, wenn man Geld braucht.« Lotte, ohne auf Pelzers
Anspielung einzugehen, erklärte sich für pleite, Schirtenstein versicherte glaubwürdig, mehr als einhundert Mark könne er
mit dem besten Willen nicht auftreiben; Helzen und Scholsdorff gaben drei- bzw. fünfhundert, wobei Helzen sich bereit erklärte,
durch eine erhöhte Mietzahlung an der Abtragung der Restschuld mitzuwirken. Scholsdorff erklärte nun errötend, er fühle sich
verpflichtet, den Rest zu übernehmen, da er ja zwar nur mehr oder weniger, aber doch anläßlich uneingeschränkt, an der finanziellen |441| Misere der Frau Pfeiffer schuldig gewesen sei, nur habe er ein Laster, das seine Flüssigkeit ständig einschränke, er sammle
nun einmal Russica, besonders Autographien, und er habe soeben einige ihm sehr teure Briefe von Tolstoi erworben, sei aber
bereit, die behördlichen Schritte morgen früh einzuleiten, zu beschleunigen, und auf Grund von Beziehungen sei es ihm gewiß
möglich, einen Aufschub zu erwirken, besonders, wenn er, was er morgen sofort nach Schalteröffnung tun werde, einen Kredit
auf sein Gehalt nähme und mit der gesamten Summe, bar, zu den entsprechenden Behörden gehe. Im übrigen genüge gewiß die Hälfte
fürs erste, wenn er den Rest bis Mittag verspreche. Schließlich sei er Beamter, als korrekt bekannt, und im übrigen habe er
Lenis Vater nach dem Krieg in mehreren Gesprächen private Wiedergutmachung angeboten, die jener aber abgelehnt habe, nun aber
sei für ihn die Gelegenheit gekommen, für seine philologischen Sünden zu büßen, deren politische Dimension er zu spät erkannt
habe. Man mußte sehen: ganz Gelehrter, Schopenhauer nicht unähnlich – die T. in seiner Stimme waren unverkennbar. »Was ich
aber brauche, meine Damen und Herren, sind mindestens zwei Stunden Zeit.
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