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Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Titel: Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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ansagen. Die hohen Löhne des Fremdarbeiters sind nun einmal
     nur dann volkswirtschaftlich zu rechtfertigen, wenn ein Teil davon durch Mieten abgeschöpft wird und auf diese Weise, wie
     auch immer, im Lande verbleiben. Die drei Türken verdienen gemeinsam etwa zweitausend und etwas Mark – es ist einfach untragbar,
     daß sie davon nur, einschließlich Küchen- und Badbenutzung, rund einhundert Mark Miete bezahlen. Das sind fünf Prozent, verglichen
     mit den zwanzig bis vierzig Prozent, die ein normaler Berufstätiger bezahlen muß. Die beiden Helzens bezahlen bei einem Gesamtverdienst
     von knapp zweitausenddreihundert rund einhundertvierzig Mark, möbliert . Bei den Portugiesen ist es ähnlich. Hier wird einfach die Wettbewerbssituation auf eine Weise verfälscht, die, griffe sie
     um sich, tatsächlich wie eine ansteckende Krankheit eins der Grundprinzipien unserer auf Leistung basierenden Gesellschaft,
     des freiheitlich demokratischen Rechtsstaates, untergraben, aushöhlen, zersetzen würde. Hier wird die Chancengleichheit verletzt,
     verstehen Sie? Gleichlaufend mit diesem ökonomischen Antiprozeß läuft, und das ist entscheidend, ein moralischer. Solche Verhältnisse,
     wie sie in Tante Lenis Wohnung herrschen, fördern nun einmal kommunale, um nicht zu sagen, kommunistische Illusionen, die
     nicht als Illusionen, aber als Idylle verheerend sind, und sie fördern, nun, nicht gerade Promiskuität – aber den Promiskuitivismus,
     der langsam aber sicher Scham und Sitte zerstört und den Individualismus zum Hohn macht. Ich könnte Ihnen noch einige, wahrscheinlich
     ein halbes Dutzend Aspekte anführen, die einleuchtend sind. Kurz gesagt: es ist keine persönliche Maßnahme gegen Tante Leni,
     es liegt kein Haß vor, keine Rache, |433| im Gegenteil, Sympathie und, offen gesagt, eine gewisse Nostalgie für diesen liebenswürdigen Anarchismus, ja, ich gestehe
     es, ein wenig Neid – entscheidend aber ist: diese Art Wohnungen, und diese Erkenntnis beruht auf exakten Analysen unseres
     Verbandes, sind die Brutstätte eines – sagen wir es ohne Emotion – Kommunalismus, der utopische Idylle und Paradiesismus fördert.
     Ich danke Ihnen für Ihre Geduld, und sollten Sie je in Wohnungsschwierigkeiten geraten, so stehen wir Ihnen – und daran ist
     keine Bedingung geknüpft, das beruht lediglich auf einer sympathischen Toleranz –, wir stehen Ihnen zur Verfügung.«

10
    In Schirtensteins Wohnung ging es zu, wie es in einigen Nebenräumen des Smolny in St. Petersburg im Oktober 1917 zugegangen
     sein mag. In den verschiedenen Zimmern tagten verschiedene Komitees. Frau Hölthohne, Lotte Hoyser und Dr. Scholsdorff bildeten
     das sogenannte Finanzkomitee, das sich mit den Ausmaßen von Lenis Finanzmisere, mit Pfändungsprotokollen, Räumungsklagen etc.
     zu beschäftigen hatte. Unter Mitwirkung der Helzens, des Türken Mehmet und des Portugiesen Pinto war es gelungen, in den Besitz
     von Briefen etc. zu kommen, die Leni verwerflicherweise ungeöffnet in ihrer Nachttischschublade, später, als diese keinen
     Raum mehr bot, in der unteren Abteilung des Nachttischs versteckt hatte. Pelzer war diesem Dreierkomitee als eine Art Generalstabschef
     beigegeben. Schirtenstein hatte sich gemeinsam mit Hans Helzen, Grundtsch und Bogakov, der von Lotte in einem Taxi herbeigeschafft
     worden war, mit dem Gegenstand »gesellschaftlicher Ablauf« zu befassen. |434| Die Versorgung hatte M. v. D. übernommen, die belegte Brote, Kartoffelsalat, Eier und Tee bereitzustellen hatte. Wie so viele
     Samowar-Laien war sie der Ansicht, der Tee würde im Samowar gekocht, sie wurde von Bogakov mit den Funktionen eines Samowars
     vertraut gemacht, ein riesiger Apparat, den Schirtenstein, wie er bekanntgab, von einem unbekannten Geber ins Haus geschickt
     bekommen hatte, mit dem maschinegeschriebenen Zettel: »Für das vieltausendfache Spielen von ›Lili Marleen‹. Einer, den Sie
     kennen.« M. v. D., wie alle Hausfrauen ihrer Altersklasse, teeunerfahren, mußte fast mit Gewalt gezwungen werden, die von
     ihr vorgesehene Menge mindestens zu vervierfachen. Im übrigen erwies sie sich als großartig, nahm, sobald sie einen gewissen
     Versorgungsvorsprung geschaffen hatte, des Verf. Jacke, suchte, lange Zeit vergeblich, dann aber doch, von Lotte unterstützt,
     mit Erfolg in Schirtensteins Kommode nach Nähzeug und begann, die bekannten schmerzlichen Wunden der Jacke innen und außen
     mit äußerster Geschicklichkeit und ohne Brille zu

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