Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
Beerdigung
von Frau Schlömer beobachten konnte; nein, indem ich Ihnen schreibe, erfülle ich eine Art Auftrag oder Vermächtnis der Verstorbenen,
die sehr unter dem Besuchsverbot gelitten hat, das während der letzten vierzehn Tage ihres Lebens über sie verhängt wurde
und – das muß betont werden – angesichts ihres Zustandes auch verhängt werden mußte. Gewiß erinnern Sie sich meiner; zwei-,
vielleicht auch dreimal hatte ich Gelegenheit, Sie zu der Verstorbenen zu führen, als Besuch noch erlaubt war. Doch da ich
seit mehr als einem Jahr fast ausschließlich in Herrn Professors Arbeitszimmer beschäftigt bin, ihm beim Zusammentragen des
Materials für Gutachten, Krankenberichte etc. helfe, haben Sie mich möglicherweise nicht mehr in Erinnerung als Krankenpfleger,
aber vielleicht erinnern Sie sich des unangemessen heftig weinenden älteren, dicklichen und kahlköpfigen Herrn in einem dunkelbraunen
Burberry-Mantel, der bei der Beerdigung von Frau Schlömer abseits stand und in dem Sie wahrscheinlich einen ihrer Ihnen unbekannten
Liebhaber vermutet haben. Dem ist nicht so, und wenn ich ein nicht ganz überzeugtes, nicht aus tiefstem Herzen kommendes ›leider‹
hinzufüge, bitte, so erblicken Sie darin keine Beleidigung der Ihnen so teuren Verstorbenen und keine Anbiederung. Tatsächlich
ist es mir versagt geblieben, eine dauerhafte Lebensgefährtin zu finden, bin ich einige Male doch von mir aus ehrlich gemeinte
Bindungen eingegangen, |473| die – ich will aufrichtig zu Ihnen sein – nicht nur an der Schnödigkeit der jeweils Erwählten, auch an meinem Beruf (der mich
notwendigerweise in ständige Berührung mit Geschlechtskranken bringt) und auch an den vielen freiwilligen Nachtwachen gescheitert
sind, die ich auf mich nahm.
Der Herr Professor wird Ihren Brief nicht beantworten, da Sie keine Verwandte der Verstorbenen sind, und selbst wenn Sie eine
wären, wäre er nicht verpflichtet, Ihnen, wie Sie wünschen, ›Näheres‹ über Frau Schlömers Tod mitzuteilen. Das untersagt die
ärztliche Schweigepflicht, das untersagt auch die pflegerische Schweigepflicht, die ich nicht brechen will. Eine gewisse,
wenn auch nicht totale Indiskretion begehe ich schon, wenn ich Ihnen einiges aus der letzten Lebenswoche Ihrer verstorbenen
Freundin berichte, und ebenfalls deshalb bitte ich Sie herzlich, keinerlei Gebrauch von meinem Brief zu machen. Natürlich
trifft es zu, wenn auf der amtlichen Todesurkunde als Todesursache: Herzversagen, totale Kreislaufschwächung angegeben wird,
aber wie es letztlich dazu gekommen ist, wo doch Frau Schlömer, was ihre akute Erkrankung betraf, auf dem Wege der Besserung
war, das möchte ich Ihnen erklären. Zunächst einmal: die schwere Infektion, die Ihre Freundin auf unsere Station brachte,
hat sie nachweislich von einem ausländischen Staatsmann gefangen. Sie wissen ja wahrscheinlich besser als ich, daß Ihre Freundin
den leichtfertigen Lebenswandel, den sie gewiß lange Zeit geführt hatte, schon seit zwei Jahren aufgegeben, daß sie, nachdem
sie ihre Eltern beerbt hatte, aufs Land gegangen war, um dort in Beschaulichkeit und Trauer ihr Leben würdig zu beschließen.
Ihrer Natur nach war sie ja, was Sie gewiß besser wissen als ich, keineswegs eine Dirne, nicht einmal eine HWG, eher eine
ständig in gewisse männliche Wünsche Verstrickte. Sie konnte so schlecht ›nein‹ sagen, wenn |474| sie ahnte, es wäre ihr möglich, Freude zu spenden. Ich fühle mich berechtigt, es so zu formulieren, da mir Frau Schlömer in
der Nacht vor ihrem Tod fast ihr ganzes Leben erzählt, alle Details ihres ›Abrutschens‹ preisgegeben hat, und wenn ich auch
– nach zwölf Jahren Dienst in einer dermatologischen Universitätsklinik und nach den noch zu schildernden Vorgängen erst recht
nicht – keineswegs dazu neige, den Dirnenberuf zu idealisieren oder gar zu romantisieren, so weiß ich doch, daß die meisten
dieser Frauen elend, krank, schmutzig, mit den wildesten Blasphemien auf den Lippen sterben, die meisten von ihnen derart
verfault, daß keins der jetzt so heiteren Sexblättchen sie auf ihren Titelblättern abbilden würde. Es ist der elendeste Tod,
den Sie sich denken können: verlassen, verfault, freudlos, arm – und aus diesem Grund bin ich auch bei den meisten Beerdigungen
mitgegangen, wo doch meistens nur eine Fürsorgerin und ein routinehaft amtierender Priester diesen Frauen das letzte Geleit
gibt. Wie soll ich
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