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Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Titel: Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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der Abstraktion fähigen Mitarbeiter – wie L. B. G. – geliefert werden könnte. Bedenkt man außerdem, daß hier nicht nur lokale,
     auch regionale und überregionale Müllprobleme erheblich rationalisiert werden könnten, so ist die Schädigung, die L. B. G.
     der Gesamtwirtschaft zufügt, kaum zu ermessen. Insofern liegt eine erhebliche Lvw. vor.
    |470| Da dem G. daran lag, auch sämtliche physischen Funktionen des L. B. G. kontrolliert zu wissen, ließ er durch den Gefängnisarzt
     Körpergröße, -gewicht, alle organischen Funktionen prüfen. Das Ergebnis: total negativ. Auch Alkohol- und Nikotinverbrauch
     des L. B. G. sind normal, jedenfalls liegen keine Schädigungen durch Narkotika vor. Es konnte, bis auf eine minimale Dioptrie
     von 0,5 auf dem rechten Auge, an L. B. G. kein krankhafter Befund festgestellt werden. Da aber einerseits erhebliche gesellschaftliche
     Störungen und ein nachweisbares Fehlverhalten vorliegen, andererseits fast jede dieser Störungen auch im endokrinen Haushalt
     des L. B. G. nachweisbar sein müßte, erklärt sich der G. diese Normalität durch eben jene ständige extreme Polarität, die
     hier einen Ausgleich schafft. Würde allerdings dieser komplizierte, permanent unter hohen inneren Spannungen vollzogene Ausgleich
     wegfallen, so würde L. B. G. innerhalb kurzer Frist eine hohe Diabetes, eine schwere Hepatitis, wahrscheinlich eine Nierenkolik
     erfahren. Es wird deshalb abgeraten, ihn vorzeitig aus der Haft zu entlassen, da er in ihr diese Polarisierung erfährt, außerdem
     seinen Solidaritätskomplex und seine Xenophilie befriedigen kann. Es könnte sogar möglich sein, daß L. B. G. – es kann jedenfalls
     nicht ausgeschlossen werden –, daß er die extreme Situation der Haft gesucht hat, um eine möglicherweise nachlassende gesellschaftliche
     Spannung hochzuhalten. Da inzwischen, wie dem G. bekannt wurde, eine erhebliche Umweltsolidarisierung mit L. B. G.s Mutter
     stattgefunden hat, diese Polarisierungsmöglichkeit also als reduziert gelten muß, kann nur die voll abgeleistete Haft L. B.
     G. im Augenblick dienlich sein, zumal damit auch der bereits stattfindende Heroisierungsprozeß bei seinen Arbeitskollegen
     nicht unterbrochen würde.
    Der G. kann sich nicht entschließen, eine neu aufkommende Theorie, die von Prof. Hunx aufgestellt wurde, |471| zu übernehmen und auf L. B. G. anzuwenden. Es handelt sich um den bisher umstrittenen Begriff der ›Normalitätsvortäuschung‹,
     die Prof. Hunx an Testpersonen festgestellt zu haben glaubt, die eine starke latente homosexuelle Veranlagung unter extremer
     heterosexueller Betätigung, auf Grund eines ›hysterisch gesteuerten Ausgleichs‹ (Hunx), verbergen. Im Zusammenhang mit einer
     neuen, wissenschaftlich exakten Analyse alter Inquisitionsberichte führt Hunx die ›Schönheit‹ der Hexen, ihre ›körperliche
     Anmut und Anziehungskraft‹, ihre mit zweifellos ihrer Zeit vorauseilenden Kenntnissen der inneren Sekretion zusammenhängenden
     ›Liebeskünste‹ auf jenen ›hysterisch gesteuerten Ausgleich‹ zurück, der ihre ›wahre Natur‹ verbarg.
    Der G. kann nicht zu der Erkenntnis kommen, daß bei L. B. G. ›Normalitätsvortäuschung‹ vorliegt, eher Normalitätsverweigerung
     bei normaler Veranlagung. Die Tatsache, daß die Müllabfuhr sein Berufswunsch und -ziel ist, beweist, daß er instinktiv die
     ihm angemessene Polarisierung gesucht hat: einen Beruf, der der Reinigung dient, aber als schmutzig gilt.«

12
    Brief des etwa 55jährigen Krankenpflegers B. E. an Leni.
    »Werte Frau Pfeiffer,
    Ihr Brief an Herrn Professor Dr. Kernlich fiel mir zufällig in die Hand, als ich auftragsgemäß dessen Schreibtisch aufräumte,
     seine Notizen ordnete, die er zum Abfassen einiger Gutachten benötigte, die er mir gewöhnlich diktiert. Indem ich Ihren Brief
     beantworte, begehe ich einen Vertrauensbruch, der mich teuer zu stehen kommen würde, wenn Sie nicht, worum ich Sie herzlich
     bitte, Prof. |472| Kernlich, meinen Kollegen und Kolleginnen, auch den hier arbeitenden und Aufsicht führenden Ordensschwestern gegenüber strengste
     Diskretion wahren. Ich setze das also voraus. Nur widerstrebend begehe ich diese Indiskretion, breche ein Berufsgeheimnis,
     das mir nach über zwölfjähriger Tätigkeit in der dermatologischen Klinik zur zweiten Natur geworden ist. Es ist nicht nur
     Ihr schmerzlich betroffener Brief, nicht nur die Erinnerung an Ihre tiefe und leidenschaftliche Trauer, die ich bei der

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