Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
deren hochentwickelte Sensibilität und Intelligenz ihr keine Wahl ließ, als sich anzupassen und damit sich selbst
und seine Identifikationsfixpunkte zu ›verraten‹ oder in ständiger Nichtanpassung sich selbst und seine Identifikationsfixpunkte
zu bestätigen, befand sich in ständigem Konflikt zwischen gesellschaftlich Erreichbarem und Begabung. So bedurfte diese Person
(Persönlichkeit?) immer neuer, später künstlicher Widerstände, um sich selbst und der Umwelt gegenüber Bestätigung nachzuweisen.
Nimmt man dem Wort die gewöhnlich zu Recht unterstellte Voraussetzung, daß der Betreffende dadurch Vorteile erlangt (längeres
Verbleiben im Krankenhaus, Herausschinden von Renten oder unbezahltem Urlaub etc.) – so ist L. B. G. ein 4. Simulant , der – übertrieben ausgedrückt – simuliert, nicht um Vorteile, sondern um Nachteile zu erlangen, um damit seinen Solidaritätskomplex |468| und seine xenophilen Neigungen zu befriedigen. Insofern sind auch die Wechselfälschungen als ›Simulationen‹ zu verstehen,
nicht als ›eigentlich kriminell‹. Daß ihm manche Simulation letzten Endes dann doch Vorteile bringt (etwa die Vertrauensbeweise
ausländischer Arbeiter, die an Verehrung grenzen), gehört zur Dialektik eines solchen Existenzexperiments, das ein Gesellschaftsmodell
– oder -prinzip, wie marxistische Kollegen es ausdrücken würden – dann ›manifest‹ macht.
Es muß auch noch erläutert werden, wieso bei L. B. G. Lvw. vorliegt. Er hat, inzwischen zum Kolonnenführer avanciert (›Höher
will ich nicht steigen!‹), erstaunliche organisatorische Begabung bewiesen. Einmal mit den Müllabfuhr- und Straßenverkehrsbedingungen
der ihm anvertrauten Straßenzüge vertraut, gelang es ihm, Tonnenbereitstellung und -entleerung so zu planen, daß seine Kolonne,
ohne in Hetze zu verfallen, zwei, manchmal drei Stunden früher als geplant das ihr auferlegte Soll erbracht hatte. L. B. G.
wurde dann mit seiner Kolonne bei überraschend langen Pausen ertappt, die keineswegs leistungsmindernd gewirkt hatten. Aufgefordert,
seine organisatorische Erfahrung dem Planungsstab zur Verfügung zu stellen, weigerte er sich, ging wieder zum Dienst nach
Vorschrift und Erfahrung über, da aus der Bevölkerung Verärgerung über die ausgiebigen Pausen, zumal ausländischer Arbeiter,
laut und diese sogar von der Presse aufgenommen wurde. Dieses Verhalten führte zur ersten Begegnung zwischen dem G. und L.
B. G., da man seinerzeit ein arbeitsgerichtliches Vorgehen erwog, auf Anraten des G. dann aber davon absah. (Der G. verweist
hier auf den Fall des Verwaltungsangestellten H. M., in dem er auch als G. tätig war und den inzwischen in die arbeitsrechtliche
Literatur eingegangenen Begriff der Lvw. erstmals anwandte. H. M., der die für acht Stunden aufgetragene Arbeit innerhalb
von zweieinhalb Stunden |469| erledigte, dann aber, als er – insofern konträr zu L. B. G.– ein Modell für seine Kollegen ausarbeitete, an deren Schikanen
scheiterte, psychisch schwer erkrankte; wieder arbeitsfähig, diesmal in einer anderen Behörde tätig, gezwungen, sechseinhalb
Stunden ›tatenlos‹ im Büro zu verbringen, klagte auf die ›Herausgabe von sechseinhalb Stunden verlorener Zeit täglich‹, die
er als Freizeit beanspruchte. Nach Abweisung dieser Klage erkrankte H. M. noch schwerer, und da sein Fall einiges Aufsehen
erregte, wurde er von einer Industriefirma übernommen, wo er, inzwischen vollkommen genesen, erheblich zur Lst. des Betriebes
beiträgt. Im Falle des H. M., in dem der G. auch tätig wurde, betraf der Vorwurf der Lvw. lediglich die Verweigerung des Absitzens
der vorgeschriebenen Arbeitszeit. Die Lvw. ist ein sich immer weiter verbreitendes Phänomen, das der Leistungsgesellschaft
noch schwere Probleme aufbürden wird.)
Im Falle des L. B. G. liegt die Lvw. darin, daß er zwar die erwartete Arbeitsleistung vollbringt, jedoch die ihm innewohnende
Intelligenz, seine Organisationsbegabung – und das nicht einmal bei erheblich höherem Lohn – seinem Arbeitgeber nicht voll
zur Verfügung stellt. Die Leistungsgesellschaft kann sich zwar ihre Minima oder Maxima bzw. einen Mittelwert von Computern
errechnen lassen, doch die Erarbeitung der speziellen Merkmale, die bei der Müllabfuhr sehr kompliziert sind, da das Unberechenbare
– etwa Verkehrsstauungen und -unfälle, Stauungs- und Unfallanfälligkeit topographisch verschieden sind – nur von einem erfahrenen,
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