Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
wird mit dem Tod bestraft«); allein, ungebrochen – marschiert er los, nur weil er gehört haben will,
daß in dem zwölf Kilometer entfernten Städtchen Weiber sind; einige ältere Huren, wie sich bei näherer Betrachtung herausstellt,
Opfer der ersten deutschen Sexwelle von 1940; betrunken, nach erheblicher beruflicher Tätigkeit erschöpft; nachdem der diensthabende
Sanitäter unserem Nebenhelden einige statistische Einzelheiten verraten, ihn einen »unverbindlichen Blick« auf die erbarmungswürdig
alt wirkenden Weiber hat werfen lassen, marschiert er unerreichter Dinge die zwölf Kilometer zurück (wobei ihm jetzt erst einfällt, daß selbst die langwierige Suche nach einem versteckten Fahrrad sich gelohnt hätte), sich reumütig auf seinen
verpflichtenden Vornamen besinnt und nach insgesamt vierundfünfzig Kilometer Marsch sofort in einen tiefen, kurzen Schlaf
versinkt, bevor er aufwacht, möglicherweise im Morgengrauen anfängt zu »schriftstellern« und weitermarschiert, weitere französische
Dörfer zu erobern.
Mit ihm also tanzte Leni schätzungsweise zwölfmal (»Das muß man ihm lassen: ein phantastischer Tänzer war er!« Lotte H.),
bevor sie gegen ein Uhr früh sich von ihm in einen unweit gelegenen, in einen Park verwandelten Festungsgraben entführen ließ.
Natürlich ist über dieses Ereignis viel spekuliert, theoretisiert, ist polemisiert und ist es analysiert worden. Es war ein
Skandal, fast eine Sensation, daß Leni, die als »unnahbar« galt, ausgerechnet »mit dem« durch die Lappen ging (Lotte H.). Nimmt man auch, was dieses Ereignis betrifft, wie bei der Tanzfrequenz einen gewissen Stimmen-
und Stimmungsdurchschnitt, so ergibt sich folgendes |145| Ergebnis der Meinungsforschung: mehr als 80 % der Mitwisser, Teilnehmer, Beobachter unterschoben A. materielle Motive bei
Lenis Verführung. Der überwiegende Teil glaubt sogar an einen gewissen Zusammenhang mit A.s angestrebter Offizierslaufbahn;
er habe sich – so meint man – Leni angeln wollen, um Geld im Rücken zu haben (Lotte). Die gesamte Pfeiffer-Sippschaft (ein
paar Tanten ein-, Heinrich nicht eingerechnet) vertrat die Meinung, Leni habe Alois verführt. Wahrscheinlich treffen beide Vermutungen nicht zu. Was A. auch
sonst gewesen sein mag, berechnend in einem materialistischen Sinn war er nicht, und darin unterschied er sich wohltuend von
seiner Familie. Es ist anzunehmen, daß er sich in die voll erblühte und wieder aufgeblühte Leni verknallt hat; daß er seiner
ermüdenden und wenig erfreulichen Abenteuer in französischen Bordellen überdrüssig war, Lenis »Frische« (Der Verf.) ihn in
eine Art Rausch versetzte.
Was Leni angeht, so darf man ihr wohl zugute halten, daß sie sich einfach »vergaß« (Der Verf.); die Einladung zu einem Spaziergang
durch den ehemaligen Festungsgraben annahm, immerhin war es eine Sommernacht, und setzt man voraus, daß A. gewiß zärtlich,
möglicherweise sogar zudringlich wurde, so kommt man schlimmstenfalls zu dem Ergebnis, es habe sich bei Leni nicht um einen
moralischen, eher um einen existentiellen Fehltritt gehandelt.
Da der Festungsgraben, immer noch Park, noch vorhanden ist und eine Ortsbesichtigung wenig Mühe machte, ist eine solche vorgenommen
worden: man hat eine Art botanischen Garten draus gemacht, und es gibt ein etwa fünfzig Quadratmeter mit Heidekraut (atlantischem)
bepflanztes Stück. Allerdings sah sich die Gartenverwaltung »außerstande, den Bepflanzungsplan des Jahres 1941 aufzufinden«.
|146| Lenis einziger überlieferter Kommentar war, was die nun folgenden drei Tage betrifft: »unbeschreiblich peinlich«; das hat
sie Margret, Lotte und Marja in gleichlautender Form als einzigen Beitrag geliefert. Was außerdem herauszubekommen war, läßt
den Schluß zu, daß A. kein sehr zartfühlender, ganz gewiß kein einfallsreicher Liebhaber war. Er schleppte Leni am frühen
Morgen zu einer obskuren Tante, Fernande Pfeiffer, die ihren Vornamen den so frankophilen wie separatistischen, von der Familie
natürlich verleugneten, Neigungen ihres Vaters verdankt; sie hauste in einer Einzimmerwohnung in einem Altbau aus dem Jahr
1895, nicht nur ohne Bad, auch ohne Wasser – letzteres jedenfalls nicht in der Wohnung, sondern auf dem Flur. Diese Fernande
Pfeiffer, die immer noch oder, genauer gesagt: schon wieder – denn vorübergehend ging es ihr gut – in einem Zimmer in einem
Altbau wohnt (diesmal aus dem Jahr 1902),
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