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Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Titel: Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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übernommen, von dem keiner mehr genau wußte, wo er hergekommen war. Und eines Tages entdeckt
     diese Oma, daß der kleine Boris noch nicht beschnitten ist, und sie denkt natürlich, das hat die verstorbene Oma versäumt,
     und läßt es einfach nachholen – nun, er war also beschnitten. Ich dachte, ich würde verrückt. Ich habe ihn gefragt, ich habe
     gesagt, Boris, du weißt, daß ich ein vorurteilsloser Mensch bin, sag mir: ›Bist du ein Jud oder nicht?‹ Und er hat mir geschworen:
     ›Nein, ich bin keiner, wenn ichs wäre, würde ichs sagen.‹ Nun, er hat auch nicht die Andeutung von ner Spur von jüdischer
     Aussprache gehabt – aber das war nun ne böse Mitteilung, denn es gab genug Antisemiten in unserem Lager, die ihn gepiesackt
     oder gar an die Deutschen verraten hätten. Ich hab ihn gefragt: ›Wie bist du denn durchgekommen, bei Untersuchungen und so,
     ich meine, durchgekommen mit deiner, nun sagen wir, veränderten Vorhaut?‹ – und er hat mir gesagt, er hat einen Freund gehabt,
     einen Medizinstudenten in Moskau, dem ziemlich klar war, wie gefährlich |219| das werden konnte, und der hat ihm das provisorisch mit nem Stück Katzendarm ganz säuberlich unter fürchterlichen Schmerzen
     wieder drangenäht, bevor er in die Armee mußte, und es hat gehalten, bis – nun, bis er dauernd in diese Erregungszustände
     geraten ist, und da ist diese Vernähung draufgegangen, ab. Nun wollte er wissen, ob Frauen – und so weiter. Nun, das war wieder
     ein Anlaß für mich, nachts Tränen zu vergießen und Blut zu schwitzen: nicht das mit der Frau – davon weiß ich nichts, was
     die Frauen und ob sies merken –, nein, der Viktor Genrichovič war so ein wütender Antisemit, und es waren ein paar drunter,
     die hätten ihn schon aus Neid und Mißtrauen an die Deutschen verraten: und dann – nun, da gabs keine hochgestellte Persönlichkeit
     mehr, die ihn hätte retten können. Da wärs aus gewesen mit der ganzen Bekömmlichkeit.«
     
    Der hochgestellte Herr: »Ich muß Ihnen gestehen, daß ich ziemlich böse auf ihn war, als ich nachträglich erfuhr, daß er sich
     auf eine Liebesaffäre eingelassen hat. Böse, ja. Das ging dann doch zu weit. Er hätte wissen müssen, wie gefährlich das war,
     und sich denken können, daß wir alle, die ihn schützten – und er wußte, daß er geschützt wurde –, in eine unangenehme Lage
     gekommen wären. Dann wäre nämlich der ganze komplizierte Koordinierungsapparat nach hinten aufgerollt worden. Sie wissen doch,
     daß es in einem solchen Fall kein Pardon gab. Nun, es ist ja gutgegangen, ich habe nur nachträglich noch einen Schrecken bekommen
     und auch Fräulein – Frau Pfeiffer gegenüber kein Hehl aus meiner Bestürzung über diese Undankbarkeit gemacht. Ja, Undankbarkeit,
     so nenne ich es. Mein Gott, wegen einer Weibersache! Ich erhielt natürlich dauernd über meine Mittelsmänner Bescheid über
     sein Wohlergehen und habe hin und wieder die Versuchung gespürt, anläßlich einer geschäftlichen Dienstreise |220| einmal hinzufahren und ihn mir mal anzuschauen – bin letzten Endes aber doch dieser Versuchung nicht erlegen. Ärger genug
     hat er mir schon gemacht, weil er offenbar in der Straßenbahn manchmal die Leute provozierte, ob bewußt oder unbewußt, ist
     mir nicht bekannt – aber es liefen tatsächlich Beschwerden über ihn und den Wachsoldaten ein, und von Kahm mußte ihnen nachgehen.
     – Er hat nämlich morgens früh in der Straßenbahn gesungen, meistens vor sich hingesummt, aber manchmal gesungen, so daß man
     die Worte verstehen konnte – und wissen Sie, welchen Text? Die zweite Strophe von ›Brüder zur Sonne, zur Freiheit – Seht,
     wie der Zug von Millionen, endlos aus Nächtigem quillt, bis euer Sehnsucht Verlangen Himmel und Nacht überschwillt‹ – halten
     Sie das für klug, übernächtigten deutschen Arbeitern und Arbeiterinnen, frühmorgens ein Jahr nach Stalingrad, in der überfüllten
     Straßenbahn so was vorzusingen, überhaupt zu singen beim Ernst der Situation? – Stellen Sie sich vor, er hätte – und ich bin
     sicher, daß ers ohne Hintergedanken getan hat – die dritte Strophe gesungen: ›Brechet das Joch der Tyrannen, die uns so grausam
     gequält, schwenket die blutrote Fahne über die Arbeiterwelt.‹ Sie sehen, ich trage das Epitheton Rot nicht umsonst. Es gab
     Ärger, Ärger. Der Wachsoldat wurde bestraft, von Kahm rief mich ausnahmsweise an – ansonsten verständigten wir uns per Kurier
     – und

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