Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Titel: Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
Vom Netzwerk:
der erste Leser
     des ›Landarztes‹ war, den ich mir als vierzehnjähriger Pennäler von meiner Mutter zu Weihnachten 1920 als Geschenk erbat.
     Nun erfuhr ich also, daß dieser Junge, der mir immer sehr nachdenklich und sehr weltfremd vorgekommen war, sich als sowjetischer
     Kriegsgefangener in Deutschland befand. Glauben Sie etwa (hier wurde der Herr, obwohl nicht einmal durch Blicke angegriffen,
     geradezu militant defensiv, schon wieder aggressiv), glauben Sie etwa, ich hätte nicht gewußt, wies in den Lagern zuging?
     Glauben Sie etwa, ich wäre blind und taub und gefühllos gewesen? (Lauter Dinge, die der Verf. nie behauptet hatte.) Stellen
     Sie sich etwa (hier wurde die Stimme fast bösartig!) vor, ich hätte das alles richtig gefunden? Und nun (die Stimme nun piano
     bis pianissimo) hatte ich endlich die Gelegenheit, etwas zu tun. Aber wo war der Junge? Wieviel Millionen oder Hunderttausende
     sowjetischer Gefangener |212| hatten wir zu dieser Zeit? War er gar bei der Gefangennahme erschossen oder verwundet worden? Suchen Sie einmal einen Boris
     Lvović Koltowski unter so vielen (wieder Anschwellen der Stimme bis zur Aggressivität)! Ich fand ihn, aber ich sage Ihnen
     (drohende Handbewegung gegen den vollkommen, aber auch vollkommen unschuldigen Verf.), ich fand ihn, mit Hilfe meiner Freunde
     beim OKH und OKW (Oberkommando des Heeres, Oberkommando der Wehrmacht. Der Verf.) – ich fand ihn. Wo? Als Steinbrucharbeiter,
     nicht gerade in einem KZ, aber unter KZ-ähnlichen Umständen. Wissen Sie, was Steinbruch bedeutete? (Da der Verf. tatsächlich
     einmal drei Wochen in einem Steinbruch gearbeitet hat, empfand er die mit der Frage unterstellte Behauptung, er wisse nicht , was Steinbrucharbeit bedeutet, milde gesagt, anmaßend, zumal ihm gar keine Gelegenheit gegeben wurde, sie zu beantworten.)
     Todesurteil bedeutete es. Und haben Sie einmal versucht, aus einem Nazilager für sowjetische Kriegsgefangene jemand herauszuholen?
     (Vorwurf in der Stimme unberechtigt, da der Verf. zwar nie versucht hat, auch nie die Möglichkeit hatte, irgend jemand irgendwo
     herauszuholen, aber einige Gelegenheiten, Gefangene gar nicht erst zu machen oder laufen zu lassen, was er auch getan hat.)
     Nun, auch ich brauchte vier geschlagene Monate, bevor ich etwas Wirksames für den Jungen tun konnte. Er kam aus einem entsetzlichen
     Lager mit der Sterbequote 1:1 zunächst in ein weniger entsetzliches Lager mit der Sterbequote 1:1,5, aus dem weniger entsetzlichen
     Lager kam er in ein nur noch fürchterliches Lager, Sterbequote 1:2,5, aus dem fürchterlichen Lager in ein weniger fürchterliches
     mit der Sterbequote 1:3,5 – und obwohl er damit schon in einem Lager war, das weit oberhalb des Gesamtsterbedurchschnitts
     lag, kam er in ein Lager, das man für halbwegs normal ansehen kann. Sterbequote äußerst günstig: 1:5,8, und dorthin hatte
     ich ihn |213| verlegen lassen, weil einer meiner besten Freunde, mein ehemaliger Mitschüler Erich von Kahm, der bei Stalingrad einen Arm,
     ein Bein und ein Auge verloren hatte und als Major Kommandant des Stalag war (Stalag? Stammlager. Der Verf.), zu dem Boris
     nun gehörte; und denken Sie vielleicht, Erich von Kahm hätte das allein entscheiden können? (Der Verf. dachte gar nichts,
     sein einziges Begehren stand nach sachlicher Information.) Nein, da mußten Parteibonzen dazwischengeschaltet, einer davon
     bestochen werden – mit einem Gasherd für seine Geliebte, Benzinscheinen über fünfhundert Liter und dreihundert französischen
     Zigaretten, wenn Sies genau wissen wollen (das: genau wissen, wollte der Verf.), und endlich mußte dieser Parteibonze wieder
     einen anderen Parteifritzen finden, diesen Pelzer, den man halbwegs darüber informieren konnte, daß Boris geschont werden
     müsse – dann aber wurde der Standortälteste fällig, der den täglichen Wachposten für Boris genehmigen mußte, und der, der
     Standortälteste, ein Oberst Huberti, alte Schule, konservativ, menschlich, aber vorsichtig, weil die SS ein paarmal versucht
     hatte, ihn reinzulegen und der ›fehlangebrachten Menschlichkeit‹ zu überführen, der Herr Oberst Huberti mußte eine Bescheinigung
     vorgelegt bekommen, daß die Tätigkeit von Boris in der Gärtnerei kriegswichtig oder ›von hohem Informationswert‹ sei, und
     da kam uns nun der Zufall oder das Glück oder, wenn Sie wollen (der Verf. wollte nicht. Der Verf.), eine Fügung entgegen.
     Dieser Pelzer war einmal in der KP gewesen und

Weitere Kostenlose Bücher