Guardian Angelinos (03) – Sekunden der Angst
»Joellen.«
»Warum?«
Sie strich sich ein imaginäres Haar aus dem Gesicht und blickte von Vivi zu Lang. »Könnte ich allein mit Ihnen reden?«, fragte sie Vivi.
»Nein«, kam Lang ihr zuvor, und sein Tonfall ließ keinen Raum für Widerspruch. »Erzählen Sie uns einfach, was passiert ist.«
Sie erschauderte kaum merklich und hockte sich auf die Kante ihres Sofas. Vivi, die sich neben sie setzte, musste gegen den Drang ankämpfen, die Hand nach ihr auszustrecken, um die Wogen aus Angst, Schrecken und Schmerz zu glätten, die von der Frau ausgingen.
»Erzählen Sie es uns, Mercedes«, sagte sie sanft. »Bitte.«
Mercedes presste die Hände vor den Mund und schloss die Augen, während sie offensichtlich ihre verstreuten, wirren Gedanken sammelte. Sie zitterte am ganzen Körper, und ihre sonst so kühle Beherrschung verflog mit jeder Sekunde mehr.
»Ich weiß, dass Sie ihre Mutter sind, Mercedes.«
Für eine Sekunde flogen ihre Lider auf, dann schlossen sie sich wieder. »Ich hatte eine Flinte im Haus, wegen der Opossums und anderer Viecher. Jo kam aus der Schule nach Hause und … hat ihn erschossen.«
Vivi entfuhr ein erstickter Laut. »Warum?«
»Weil er …« Sie rang mühsam nach Atem. »Er hat mich angegriffen.«
»Oh«, presste Vivi hervor. Sie gab den Kampf auf und fasste Mercedes’ Hand.
»Ich war allein im Haus, und er kam von der Plantage – es war außerhalb der Saison, nur noch wenige Arbeiter waren da. Er wollte Wasser, und ich gab ihm welches, obwohl ich den Arbeitern nie gerne irgendwas gab, weil – na ja, mein Mann war tot, und ich hatte Angst, sie könnten die Situation ausnutzen.« Sie rang nach Atem.
Vivi drückte ihre Hand, und ihr selbst schnürte es die Kehle zusammen und den Magen; ihre Intuition riet ihr, auf das Schlimmste gefasst zu sein.
»Er hat mich vergewaltigt.«
Es war das Schlimmste. »Das ist ja entsetzlich«, flüsterte sie gepresst, sich vage der Tatsache bewusst, dass ihre Stimme zitterte.
»Joellen kam rein, als er gerade …« Sie senkte den Blick zum Boden.
»Schon gut, Sie brauchen es nicht zu sagen.«
»Doch, ich muss«, flüsterte sie. »Ich muss es sagen, weil mein Mädchen ihn mit dieser Flinte erschossen hat und deswegen keinen Ärger bekommen sollte. Folglich mussten wir ihn verstecken. Und wir mussten da weg, weil ich solche Angst hatte und so … so …«
Fertig war. Am Ende.
»Wir sind von hier fort. Ich habe die Mädchen genommen, und wir haben das Moor verlassen und die Landwirtschaft aufgegeben, und dann … ich musste zurückkehren. Es war der einzige Ort, wo ich mich vor der Welt verstecken konnte.«
»Und Sie haben nie daran gedacht, zu verkaufen, während sie weg waren?«, erkundigte sich Lang.
»Nein.« Sie blickte zu ihm hoch. »Ich hätte niemals verkauft.«
»Also gehört Ihnen das Grundstück noch.«
»Ich habe vor Jahren alles Cara und Joellen überschrieben. Anwälte haben sich darum gekümmert. Aber es ist immer noch in Familienbesitz.«
Vivi und Lang wechselten einen Blick. Konnten Chessies Informationen falsch sein? Warum sollte Roman Emmanuels Name als Eigentümer des Moorhauses und des landwirtschaftlichen Betriebs im Grundbuch eingetragen sein?
Mercedes atmete lange und tief ein. »Werden Sie mich … irgendwohin bringen? Ich … kann nämlich nicht rausgehen.«
»Heute Abend nicht«, sagte Vivi sanft, dankbar, dass Lang ihr nicht widersprach. »Wann haben Sie aufgehört, rauszugehen, Mercedes?«
»Es passierte so nach und nach«, gestand sie. »Jeden Tag … seit jenem Tag … konnte ich weniger machen. Mich immer weniger dem Leben stellen. Ich habe versucht, mir Hilfe zu suchen, aber die Ängste waren stärker. Als Cara ein Star wurde, hat sie sich darum gekümmert, dass ich nie wieder irgendwohin gehen muss. Ich tu einfach, um was meine Mädchen mich bitten, denn sie sorgen für meine Sicherheit.«
»Warum erzählen Sie niemandem, dass Sie ihre Mutter sind?«
»Ich befürchte, wenn es je rauskommt, kann die schlechte Presse Cara ruinieren. Ihre Karriere, ihr Leben, ihre Möglichkeiten, sich um Jo zu kümmern.« Mercedes schluckte schwer. »Jo hat ihre eigene Art, damit klarzukommen, was sie getan hat.«
Saufen. Jeder fand irgendeinen Ausgleich. Vivi versteckte sich ja selbst, auf ihre Art. Versteckte sich vor dem Schmerz und der Angst – und ließ sie kampflos gewinnen.
War es nicht jedes Mal so gewesen, wenn ein Mann versucht hatte, sich ihr zu nähern?
Sie blickte zu Lang, und ihr Herz füllte sich mit
Weitere Kostenlose Bücher