Guardian Angelinos (03) – Sekunden der Angst
nicht, aber sie wusste, dass Widerspruch an diesem Punkt zwecklos war. Und es war in Ordnung, Nino nicht anzurufen. Er würde begeistert sein, sie zu sehen, wie immer, und wahrscheinlich etwas kochen und sich wünschen, die ganze Familie säße bei Tisch.
Allein bei der Vorstellung, ihn zu sehen, zu Hause zu sein, fühlte sie sich besser. Zuhause, das war nicht das rote Backsteingebäude in Brookline, auch wenn sie nun schon lang genug in der Wohnung im dritten Stock in der Seitenstraße der Beacon Street wohnte, um dort ein paar Wurzeln zu schlagen und sich heimisch zu fühlen. Nein, ihr Zuhause war jenes kornblumenblaue Haus im Kolonialstil, das sich zwischen sanfte Hügel schmiegte, von hundertjährigen Eichen umstellt, oberhalb eines Teichs, auf dem die Familie und auch die Nachbarn ruderten, fischten und im Winter Schlittschuh liefen, und der wegen seiner beachtlichen Größe »der See« genannt wurde.
Ihr Zuhause waren die Rossis – in diese Familie waren sie und Zach damals nicht ganz unfreiwillig gekommen.
Obwohl dieses Zuhause auch ein paar dunkle Erinnerungen barg. Die Taylors waren zwar irgendwann in den letzten zehn Jahren ausgezogen, doch die Gespenster waren geblieben. Ein Straßenschild, auf dem die Meilen zum Nachbarort Concord angegeben waren, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, und schon spukten die Geister wieder in ihrem Kopf.
Es war an dem Abend passiert, als die Concord-Carlisle High spielte. Sie hörte noch das Stampfen ihrer Cheerleader-Schuhe auf dem lackierten Holz, als wäre es gestern gewesen. Das Grölen der Menge, als Kenny Taylor einen Punkt für die Lincoln Sudbury High School erzielte.
Kenny Taylor, das ist unser Mann … Wenn er es nicht macht, wer dann?
Und er wollte es machen. In jener Nacht, ein bisschen zu betrunken, ein bisschen zu hitzköpfig, ein bisschen zu brutal. Der Rock, das Höschen, die dünnen Arme einer Tänzerin waren kein Hindernis für ihn.
Du hast doch darum gebettelt in deinem Cheerleader-Röckchen.
Ihr drehte sich der Magen um.
»Niemand zu Hause, hm?«
Sie drehte sich zu ihm und blendete eine Million Meilen und sechzehn Jahre aus. »Was?«
»Es sei denn, dein Onkel Nino fährt einen nagelneuen roten Mustang, oder – gütiger Himmel, ist das lila Ding etwa ein 68er GTO?«
Sie gab ein Kreischen von sich, und ihre Hand war schon am Türgriff, ehe er überhaupt in die Einfahrt gebogen war. »Der Mustang gehört Chessie, aber – großer Gott – lass mich aussteigen! Gabe ist zu Hause!«
Sobald er zum Stehen kam, stürzte sie praktisch aus dem Auto. Sie hatte ihren Cousin fast zwei Jahre nicht gesehen. Sein Job als verdeckter Ermittler zwang ihn, selbst bei seinen seltenen Aufenthalten in den USA ein Undercover-Dasein zu führen.
Noch bevor sie die Einfahrt halb hinuntergelaufen war, schwang die leuchtend rote Haustür auf, und Onkel Nino kam herausgestapft, die Brauen über grimmigen dunklen Augen zusammengezogen, das schütter werdende Haar nachlässig nach hinten gekämmt. Mit seiner Körpersprache signalisierte er jedem, der es wagte, dem Haus einen winzigen Schritt zu nahe zu kommen, dass er ihn zerquetschen würde, mit bloßen Händen, wuchtig und tödlich wie Fleischerbeile.
»Ich bin’s, Nino! Vivi!« Sie lief auf ihn zu und konnte buchstäblich zusehen, wie das Misstrauen auf seinem runzeligen Gesicht verschwand, das sich spontan freudig erhellte.
»Viviana! Ach, du liebe Güte!«
Sie zupfte an ihren Haaren. »Undercover-Aktion. Filmstar. Ist Gabe hier, oder hat nur jemand seinen Wagen aus der Garage gestellt?«
Sie wollte ihn flüchtig umarmen, doch er erwiderte die Geste wesentlich inniger und drückte sie erstaunlich fest, wenn man bedachte, dass er über achtzig war.
Er machte den Mund auf, um zu antworten, dann blickte er über ihre Schulter und legte die Stirn in Falten.
»Du kennst doch Colton Lang, Onkel Nino. Er ist ein Mandant. Er ist …«
»Das wird Gabe überhaupt nicht passen.«
»Also ist er hier?« Sie wand sich aus seiner Umklammerung. »Ist schon gut, Lang gehört zu mir.« Sie blickte Lang über ihre Schulter hinweg an. »Du brauchst noch Ninos Einwilligung, aber ich geh schon mal rein.« Sie drängte sich an dem alten Mann vorbei und stürmte durch die Tür.
Und da war er, hinreißend, umwerfend und grinste verschlagen wie Karl der Kojote.
»Oh, mein Gott!« Sie kreischte so laut, dass es den Kronleuchter zum Bersten hätte bringen können und Lang hinter ihr ins Haus gestürzt kam. Doch sie wurde bereits von
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