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Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Titel: Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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um einen ruhigen Ton bemüht. »Wenn du dich schneidest und ein tiefe, blutende Wunde hast, was machst du dann?«
    Ich wartete seine Antwort nicht ab. »Du gehst zum Arzt und lässt sie nähen. Richtig? Du selbst kannst sie nicht nähen, denn du bist ja kein Arzt.« Ich fand, das war eine gute Metapher, um ihm begreiflich zu machen, dass es Fälle gibt, in denen man auf einen Spezialisten angewiesen ist, und dass in diesem Fall ich der Spezialist war.
    »Ich kann Wunden nähen, ich war Sanitäter. Während meiner Militärzeit.«
    An diesem Punkt strengte ich mich nicht länger an, ruhig zu erscheinen. Offensichtlich nützte es nichts.
    »Jetzt hör mir mal gut zu, mein Freund. Wenn du mir noch so eine dämliche Antwort gibst, dann gehe ich wieder. Ich rufe deine Freundin an, gebe ihr das bisschen Geld zurück, das ich von ihr bekommen habe, und du suchst dir einen neuen Anwalt. Andernfalls kriegst du einen Pflichtverteidiger zugewiesen, der keinen Finger rührt, wenn du ihn nicht extra bezahlst. Und wahrscheinlich selbst dann nicht, bei dem, was du ihm bieten kannst. Aber wenn du dich nur deshalb so idiotisch benimmst, weil du den Jungen wirklich umgebracht hast und dafür büßen willst, dann ist das für mich ein Grund mehr, mich schleunigst zu verdrücken...«
    Schweigen.
    Dann sah Abdou Thiam mich zum ersten Mal, seit wir in diesem Zimmer waren, so an, als würde ich wirklich existieren. Er sprach leise.
    »Ich habe Ciccio nicht umgebracht. Er war mein Freund.«
    Ich brauchte einen Moment, um wieder ins Lot zu kommen.
    Es war, als hätte ich mich gegen eine verschlossene Tür geworfen, um sie aufzubrechen, und der, der dahinter stand, hätte sie plötzlich in aller Ruhe geöffnet. Ich atmete tief durch und verspürte Lust auf eine Zigarette. Also holte ich das zerknautschte Päckchen aus der Jackentasche und hielt es Abdou hin. Er sagte nichts, nahm sich eine Zigarette und wartete, dass ich sie ihm anzündete. Danach steckte ich meine eigene an.
    »In Ordnung, Abdou. Ich muss den Bericht der Staatsanwaltschaft erst noch lesen, aber zuerst muss ich über diese Tage alles wissen, woran du dich erinnerst, und zwar so genau wie möglich. Was meinst du, wollen wir anfangen?«
    Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann nickte er mit dem Kopf.
    »Wann hast du vom Verschwinden des Jungen erfahren?«
    Er nahm einen tiefen Zug an der Zigarette, bevor er antwortete.
    »Im Augenblick meiner Verhaftung.«
    »Erinnerst du dich noch, was du am Tag, an dem der Junge verschwunden ist, getan hast?«
    »Ich bin nach Neapel gefahren, um Ware einzukaufen. Das habe ich beim Verhör auch gesagt. Das heißt, ich habe gesagt, dass ich nach Neapel gefahren bin, aber nicht den Grund. Ich wollte die, die mir die Taschen verkaufen, nicht in die Sache hineinziehen.«
    »Bist du allein gefahren?«
    »Ja.«
    »Wann bist du aus Neapel zurückgekommen?«
    »Am Nachmittag. Vielleicht war es auch schon Abend, das weiß ich nicht mehr genau.«
    »Und am nächsten Tag?«
    »Daran erinnere ich mich nicht mehr. Ich war an irgendeinem Strand, aber an welchem, weiß ich nicht mehr.«
    »Erinnerst du dich an jemanden, den du getroffen hast? Ich meine sowohl am fünften August, als auch am Morgen danach. Irgendjemand, der bezeugen könnte, dass er dich gesehen hat?«
    »Erinnerst du dich, wo du an diesem Morgen warst, Avvocato?«
    In der Scheiße, hätte ich gerne gesagt, ich saß in der Scheiße. Auch am Morgen davor und am Morgen danach. Und ich sitze auch jetzt noch in der Scheiße, nur ein bisschen weniger.
    Das interessierte Abdou aber nicht, und deshalb behielt ich es für mich. Ich rieb mir mit der Hand die Stirn, fuhr mir übers Gesicht und zündete am Ende noch eine Zigarette an.
    »Okay, du hast Recht. Es ist nicht einfach, sich an einen Nachmittag, Morgen oder Tag zu erinnern, der wie alle andern war. Für uns ist es aber sehr wichtig, dass wir diese Tage rekonstruieren. Willst du mir jetzt etwas über den Jungen erzählen? Hast du ihn gekannt?«
    »Klar habe ich ihn gekannt. Seit dem vorigen Jahr, das heißt, seit ich anfing, an diesem Strand zu verkaufen.«
    »Erinnerst du dich noch, wann du ihn zum letzten Mal gesehen hast?«
    »Nein. Nicht genau. Aber ich habe ihn immer gesehen, wenn ich an diesen Strand gegangen bin. Er war jeden Tag dort, entweder mit den Großeltern oder mit seiner Mutter. Manchmal auch mit Tante und Onkel.«
    »Hast du ihn irgendwann mal beim Haus seiner Großeltern oder sonst irgendwo außerhalb des Strands gesehen?

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