Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
nicht ein, sondern schlug mich mit tristen Gedanken herum, die ich einfach nicht loswurde.
Irgendwann sah ich ein, dass es besser war, nicht im Bett zu bleiben und mich mit vier, fünf Stunden Schlaf zu begnügen. Wenn es hoch kam.
Ich gewöhnte mir also an, gleich nach dem Erwachen aufzustehen. Danach machte ich Gymnastik, duschte und rasierte mich, frühstückte und räumte die Wohnung auf. Kurz, ich brachte es fertig, mindestens anderthalb Stunden lang fast nicht zu denken.
Dann ging ich aus dem Haus, raus ins Helle, und machte einen ausgiebigen Spaziergang. Auch das diente dazu, mich vom Denken abzuhalten.
An diesem Morgen kam ich nach Ablauf des üblichen Programms gegen acht in mein Büro, warf einen kurzen Blick auf den Terminkalender und steckte ihn zusammen mit ein paar Kugelschreibern, Protokollpapier und dem Handy in meine Aktentasche. Dann schrieb ich noch rasch einen Zettel für meine Sekretärin, legte ihn auf ihren Schreibtisch und fuhr zum Gericht.
Es hatte Vorteile, so früh aufzustehen und so früh im Gericht anzukommen. Die Geschäftsstellen waren nahezu leer, und man konnte seinen Verwaltungs- und Papierkram ruckzuck erledigen.
Ich hatte an diesem Vormittag Verhandlung, aber davor musste ich noch mit Dottore Cervellati sprechen, dem Staatsanwalt, der sich mit Abdous Fall befasste.
Cervellati gehörte nicht gerade zu den sympathischsten Vertretern des Gerichts.
Er war mittelgroß und leicht untersetzt; den Bauchansatz verbarg er winters wie sommers unter grässlichen, braunen Anzugswesten. Er hatte eine Brille mit dicken Gläsern und schütteres Haar, das immer einen Tick zu lang war. Bis auf seine Westen war alles grau an ihm: Jacken, Strümpfe, Gesichtsfarbe.
Eine sympathische Kollegin von mir definierte Cervellati einmal als »Unterhemdträger«. Ich fragte sie, was das bedeute, und sie erklärte mir, das sei Teil einer Klassifizierung von Menschen, die sie selbst entwickelt habe.
Ein – metaphorischer – Unterhemdträger ist vor allem jemand, der selbst im Hochsommer, bei fünfunddreißig Grad im Schatten, noch ein Unterhemd – aus Feinripp – unter dem Hemd trägt, »weil es den Schweiß aufsaugt und ich mich dann nicht gleich erkälte, wenn ich einen Zug abbekomme«. Besonders radikale Vertreter tragen selbst unterm T-Shirt noch ein Unterhemd.
»Unterhemdträger« haben kunstlederne Handyetuis, die man am Hosenbund festhaken kann, laufen nachmittags zu Hause im Schlafanzug herum und bewahren ihre alten E-Tacs-Handys auf, weil die immer noch am besten funktionieren. Sie lutschen Eukalyptusbonbons für frischen Atem und verwenden Fußpuder und Mundwasser.
Manche von ihnen tragen in der Brieftasche ein Präservativ mit sich herum, das sie nie benützen (aber früher oder später entdeckt es ihre Frau dort und macht ihnen die Hölle heiß).
»Unterhemdträger« lassen Sprüche vom Stapel wie: Scherben bringen Glück; die Zeiten, in denen man im Stadtzentrum einen Parkplatz fand, sind vorbei; die Jugend von heute hat nichts im Kopf als Diskos und Videospiele; so was ist mir wirklich noch nie unter gekommen; ich habe nichts gegen Homos/ Schwule/ Gays/ Schwuchteln, solange sie mich in Ruhe lassen; wenn einer homo/ schwul/ gay/ oder eine Schwuchtel ist, so ist das seine Sache, bloß Lehrer darf er dann nicht werden; mein allerherzlichstes Beileid; ob rechts oder links, das sind doch alles die gleichen Verbrecher; ich spüre jeden Wetterumschwung im Voraus: mir tut dann immer der Ellbogen/ das Knie/ der Knöchel/ das Hühnerauge weh; durch Schaden wird man klug; das werde ich dem Burschen bei nächster Gelegenheit heimzahlen; ich rede nicht hinten herum: wenn ich jemandem was zu sagen habe, sage ich’s ihm ins Gesicht; in diesem Land arbeiten nur die Dummen; vom Regen in die Traufe kommen; nach dem Essen sollst du ruh’n oder tausend Schritte tun; die Hoffnung ist das Letzte, was stirbt; als wäre es gestern gewesen; ich muss mich endlich dazu durchringen, einen Internet-Kurs zu belegen/ Sport zu treiben / abzunehmen/ mein Fahrrad wieder herzurichten/ das Rauchen aufzugeben usw. usf.
Des Weiteren vertreten »Unterhemdträger« selbstverständlich die Auffassung, dass es keinen richtigen Frühling/ Herbst mehr gibt, dass einem trockene Hitze/ Kälte nichts anhaben, feuchte Hitze/ Kälte aber unerträglich sind.
Schimpfwörter und Flüche des »Unterhemdträgers« sind: Kuckuck noch mal, Dunnerlittchen, verflixt und zugenäht, heiliger Strohsack, ach, du dickes Ei, Schiete, du
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