Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
Armleuchter, da geht einem doch glatt der Hut hoch, das gibt’s doch nicht, ich krieg die Motten, mich laust der Affe.
Jeder, der ihn kannte, hätte zugestimmt. Cervellati war ein »Unterhemdträger«.
Zu seinen wenigen Vorzügen gehörte es, dass er morgens generell ab halb neun im Büro anzutreffen war. Im Gegensatz zum Großteil seiner Kollegen.
Ich klopfte an, hörte keine Antwort, öffnete die Tür und steckte den Kopf hinein.
Cervellati blickte von seinem Schreibtisch auf. Er hatte einen Stoß loser Blätter vor sich, einen von vielen, schmuddeligen Blätterstößen, die sich neben dicken Wälzern und Faszikeln auf seinem Tisch türmten; mittendrin ein Aschenbecher mit einem erloschenen Zigarillo. Das Zimmer müffelte wie gewöhnlich. Nach Staub und kaltem Zigarrenrauch.
»Einen wunderschönen guten Morgen, Consigliere«, sagte ich so liebenswürdig wie nur irgend möglich.
»Guten Morgen, Avvocato.« Er bat mich nicht einzutreten. Sein Gesicht hinter der klobigen Brille und der Barriere aus Blätterstößen war absolut ausdruckslos.
Ich trat ein, ohne auf eine explizite Aufforderung zu warten, die in der Tat nicht erfolgte.
»Consigliere, ich bin der Verteidiger von Herrn Thiam, an den Sie sich bestimmt erinnern...«
»Der Neger, der das Kind in Monopoli ermordet hat.«
Natürlich erinnerte er sich. In ein paar Tagen würde er den Abschluss der Ermittlungen bekannt geben und dann konnte ich die Akten einsehen und kopieren. Er war sicher, dass ich ein Schnellverfahren beantragen würde, damit sparten wir alle Zeit. Vielleicht war mir ja aufgefallen, dass man – übrigens versehentlich – vergessen hatte, den Antrag auf Strafverschärfung wegen Vorsätzlichkeit zu stellen, der die Haftstrafe zu Lebenslänglich werden lassen konnte. Ohne diesen Antrag konnte mein Mandant, wenn wir uns auf ein Schnellverfahren einigten, mit zwanzig Jahren davonkommen. Kam die Sache aber vors Schwurgericht, so würde er – Cervellati – diesen Strafverschärfungsgrund geltend machen müssen und Abdou Thiam würde vermutlich auf Lebzeit hinter Gittern verschwinden.
Er behauptete, unschuldig zu sein? Das taten sie alle.
Cervellati meinte, er halte mich für einen seriösen Anwalt und sei sich deshalb sicher, dass ich nicht auf unsinnige Ideen kommen würde, wie beispielsweise die, in der absurden Hoffnung auf einen Freispruch vors Schwurgericht zu gehen. Abdou Thiam würde auf alle Fälle verurteilt werden, und eine Gerichtsverhandlung vor Laienrichtern würde die Sache für ihn nur schlimmer machen. Abgesehen davon habe er – Cervellati – nicht die geringste Lust, Wochen oder gar Monate am Schwurgericht zu verbringen.
Ein Schnellverfahren ist das, was man in der Juristensprache ein Sonderverfahren nennt. Normalerweise beantragt der Staatsanwalt bei einem Mordprozess nach Abschluss der Ermittlungen beim zuständigen Richter die Eröffnung des Hauptverfahrens.
In einer Vorverhandlung wird zunächst festgestellt, ob die Voraussetzungen für einen Prozess gegeben sind, mit dem sich, im Falle eines Mordes, das Schwurgericht befasst, das sich aus Berufsrichtern und ehrenamtlichen Schöffen zusammensetzt. Sind diese Voraussetzungen gegeben, ordnet der Richter die Eröffnung des Hauptverfahrens an.
Der Angeklagte hat jedoch die Möglichkeit, ein Hauptverfahren vor dem Schwurgericht abzuwenden, indem er sich für einen vereinfachten Ritus, das so genannte Schnellverfahren, entscheidet.
Dazu muss er in der Vorverhandlung – persönlich oder durch seinen Anwalt – beantragen, dass der Prozess, wie man es nennt, »nach Aktenlage« entschieden wird. Dies bedeutet, dass der zuständige Richter allein aufgrund der Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft entscheidet, ob ausreichend Beweise für eine Verurteilung vorliegen. Liegen sie vor, so verurteilt er den Angeklagten.
Diese Art von Prozess dauert natürlich bei weitem nicht so lange wie ein gewöhnlicher Prozess. Es werden keine Zeugen angehört und nur in Ausnahmefällen neue Beweismittel zugelassen. Die Verhandlung ist auch nicht öffentlich, und das Urteil wird von einem einzigen Richter gefällt. Kurz, der Staat spart mit dem Schnellverfahren einen Haufen Zeit und Geld.
Natürlich springt auch für den Angeklagten etwas dabei heraus. Kommt es zu einer Verurteilung, so hat er Anspruch auf einen erheblichen Strafnachlass. In einem Wort: Der Staat spart Zeit und Geld, der Angeklagte Jahre hinter Gittern.
Das Schnellverfahren hat aber noch einen Vorteil. Es
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