Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
Bist du je am Haus der Großeltern vorbeigegangen?«
»Ich weiß überhaupt nicht, wo das Haus seiner Großeltern ist, das Kind habe ich immer nur am Strand gesehen.«
»Der Mann von der Bar Maracaibo sagt, er hätte dich an dem Nachmittag, an dem der Junge verschwunden ist, auf das Haus der Großeltern zugehen sehen, und da hättest du deinen Sack mit der Ware nicht dabei gehabt.«
»Ich kenne das Haus der Großeltern nicht«, wiederholte er entnervt, »und ich bin an diesem Nachmittag auch nicht in Monopoli gewesen. Als ich aus Neapel zurückkam, bin ich in Bari geblieben. Ich weiß nicht mehr, was ich gemacht habe, aber in Monopoli war ich bestimmt nicht.«
Er griff wütend nach dem Zigarettenpäckchen und den Streichhölzern, die auf dem Tisch liegen geblieben waren, und steckte sich noch eine an.
Ich ließ ihn in Ruhe ein paar Züge machen, bevor ich weitersprach.
»Wie kommt es, dass du ein Foto des Jungen zu Hause hattest?«
»Ciccio wollte es mir unbedingt schenken. Ein Verwandter von ihm, ich glaube, es war sein Großvater, hat am Strand mit einer Polaroid-Kamera ein paar Bilder von ihm gemacht. Eines davon hat Ciccio mir geschenkt. Wir waren Freunde. Wenn ich vorbeikam, haben wir immer eine Weile miteinander geplaudert. Er wollte, dass ich ihm von Afrika erzähle, von den Tieren dort, er fragte mich, ob ich schon mal einen Löwen gesehen hätte. Lauter solche Sachen. Ich habe mich über das Foto gefreut, weil wir Freunde waren. Außerdem hatte ich zu Hause viele Fotos, auch von anderen Leuten am Strand – ich bin mit vielen Kunden befreundet. Die Carabinieri haben nur das eine mitgenommen. Klar, dass es so zu einem Beweismittel wird. Warum haben sie nicht alle Fotos mitgenommen? Warum haben sie nur ein paar Bücher mitgenommen? Ich habe nicht nur Kinderbücher! Ich habe Handbücher, Geschichtsbücher, Bücher über Psychologie, aber sie haben nur die Kinderbücher mitgenommen. Klar, mache ich so den Eindruck eines Kinderschänders, eines Pädophilen, wie ihr es nennt.«
»Hast du das alles dem Richter auch gesagt?«
»Avvocato, weißt du, in welcher Verfassung ich war, als sie mich zum Richter geschleppt haben? Ich konnte kaum atmen, so hatten sie mich vermöbelt, und auf einem Ohr war ich taub. Zuerst bin ich von den Carabinieri verprügelt worden, später im Gefängnis von den Wärtern. Und genau die haben zu mir gesagt, ich sollte vor dem Richter besser den Mund halten. Auch der Anwalt meinte, ich solle lieber nichts sagen, sonst würde meine Lage noch komplizierter, schlimm genug, dass ich die Fragen des Staatsanwalts beantwortet hatte. Er wollte zuerst die Akten studieren. Also hab ich zum Richter gesagt, dass ich die Aussage verweigere. Aber ich glaube, die hätte ihn auch gar nicht interessiert. Ich wäre so oder so im Gefängnis geblieben.«
Ich wartete ein paar Sekunden, bevor ich die nächste Frage stellte.
»Wo sind die Sachen, von denen du gesprochen hast, die Bücher, die Fotos und das alles?«
»Keine Ahnung. Sie haben mein Zimmer ausgeräumt und der Besitzer hat es neu vermietet. Du musst Abadschadsche fragen, wo die Sachen sind.«
Wir schwiegen eine Weile. Ich versuchte die erhaltenen Informationen in meinem Kopf zu ordnen, woran Abdou dachte, weiß ich nicht.
Schließlich war ich es, der weitersprach.
»Gut, ich glaube, das genügt für heute. Morgen, das heißt am Montag, gehe ich zur Staatsanwaltschaft und besorge mir eine Kopie der Akten. Danach lese ich sie mir gründlich durch und sobald ich einigermaßen klar sehe, komme ich dich wieder besuchen. Und dann schauen wir, dass wir eine anständige Verteidigung auf die Beine stellen.«
Ich ließ den Satz bewusst ein wenig offen ausklingen, als fehlte noch etwas.
Abdou merkte es und sah mich fragend an. Dann nickte er bejahend mit dem Kopf. Er zögerte einen Augenblick, bevor er mir als Erster die Hand hinstreckte. Sein Händedruck war eine Spur, aber wirklich nur eine Spur anders als der vor etwa einer Stunde.
Dann öffnete ich die Tür und rief nach dem Wärter, der ihn in seine Zelle zurückbegleiten sollte, in den Hochsicherheitstrakt für Vergewaltiger, Pädophile und Kronzeugen. Alles Leute, die unter »normalen« Häftlingen nicht lange überlebt hätten.
Als ich nach meinem Zigarettenpäckchen langte, merkte ich, dass es leer war.
3
A m Montag wachte ich wie gewöhnlich gegen halb sechs auf.
In der ersten Zeit hatte ich noch versucht, im Bett zu bleiben, in der Hoffnung, wieder einzuschlafen. Ich schlief aber
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