Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
beschlossen hatten, für eine Verurteilung zu stimmen.
»Es gibt viele Möglichkeiten eine unbewusste Falschaussage zu konstruieren. Manche sind beabsichtigt, wie bei dem Experiment, von dem ich Ihnen berichtet habe. Andere sind unfreiwillig und häufig sogar in gutem Glauben. Wie in diesem Fall.
Versuchen wir einmal gemeinsam zu rekonstruieren, was während der Ermittlungen, die zu Abdou Thiams Festnahme und zu diesem Prozess führten, abgelaufen sein könnte. Ein Kind verschwindet und wird zwei Tage später tot aufgefunden. Ein schockierendes Ereignis, das die mit der Untersuchung des Falls Betrauten, also Polizei und Staatsanwaltschaft, unter Druck setzt: Sie müssen schnellstmöglich den oder die Schuldigen finden. Alles schreit – verständlicherweise – nach Gerechtigkeit. Die Carabinieri befragen die Angehörigen und andere Personen, die das Kind gut kannten, und dabei kommt auch diese Art Freundschaft ans Licht, die das Kind mit einem afrikanischen Straßenverkäufer verband – etwas durchaus nicht Alltägliches, Atypisches, das Verdacht erregt. Und die Hoffnung weckt, möglicherweise auf die richtige Spur gestoßen zu sein und das dringende Verlangen nach Gerechtigkeit stillen zu können. Jetzt tappen die Ermittler nicht länger im Dunkeln, es gibt einen Verdacht und eine Hypothese, wie der Fall gelöst werden könnte. Die Suche nach Bestätigung dieser Hypothese wird mit doppeltem Eifer betrieben. Das ist in etwa die Situation, als der Zeuge Renna zum ersten Mal von den Carabinieri vernommen wird. Die Ermittler sind verständlicherweise erregt; sie wissen, dass die Aussage dieses Zeugen einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu der Lösung sein könnte, die ihnen vorschwebt. Und genau in dieser Phase kommt es sozusagen zur Konstruktion der unbewussten Falschaussage.
Vorsicht, meine Damen und Herren. Ich will keineswegs unterstellen, dass die Ermittlungen absichtlich beeinflusst oder in eine falsche Richtung gelenkt worden sind. Und erst recht nicht, dass die Ermittler sich irgendwie gegen den Angeklagten verschworen hätten – derartige Verschwörungstheorien liegen mir völlig fern. Die Sache ist viel einfacher, und zugleich viel komplexer. Um Ihnen zu veranschaulichen, was ich meine, möchte ich einen berühmten Satz von Albert Einstein zitieren. Er lautet mehr oder weniger so: Die Theorie bestimmt, was wir beobachten.
Was meint er damit? Ich will es Ihnen sagen: Wenn der Mensch eine Theorie hat, eine Theorie, die ihm gefällt, die ihn überzeugt und zufrieden stellt, so tendiert er dazu, alles im Lichte dieser Theorie zu betrachten. Anstatt die verfügbaren Daten objektiv zu beurteilen, sucht er nur nach Bestätigung für seine Theorie. Mehr noch, die auserwählte Theorie beeinflusst, ja, determiniert seine Wahrnehmung. Wie Einstein sagte – und er war ein Mann der Wissenschaft: Die Theorie bestimmt, was wir zu beobachten vermögen. In anderen Worten: Wir sehen, wir hören, wir nehmen wahr, was mit unserer Theorie zu vereinbaren ist, und alles andere klammern wir einfach aus. Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das mehr oder weniger dasselbe besagt, wenn auch mit anderen Worten: Zwei Drittel von dem, was wir sehen, befindet sich hinter unseren Augen.
Jeder von uns hat schon einmal die Erfahrung gemacht, dass seine Wahrnehmung davon bestimmt wird, was er, aus welchem Grund auch immer, im Kopf hat – oder hinter den Augen, wie die Chinesen sagen würden.
Wenn Sie sich je ein neues Auto gekauft haben, wissen Sie was ich meine: Man sieht plötzlich überall die gleichen Autos herumfahren, zu Dutzenden. Wo sind die vorher gewesen?
Wahrnehmungsfilter, nennen das die Psychologen.
Einstein würde sich wahrscheinlich im Grab umdrehen, aber gestatten Sie mir, seinen berühmten Satz einmal zu paraphrasieren, nämlich so: Die Fahndungshypothese bestimmt, was die Fahnder beobachten. Doch nicht nur. Sie bestimmt auch, was sie suchen, sie bestimmt ihre Art, mit den Zeugen umzugehen, die Fragen, die sie ihnen stellen. Sie bestimmt, wie sie ihre Protokolle abfassen. Ohne dass dies alles irgendetwas mit böser Absicht zu tun hätte.
Lassen Sie es mich noch einmal betonen: All das, wovon ich spreche, kann zu Fehlern in den Ermittlungen führen – und der Prozess ist dazu da, diese Fehler zu korrigieren – aber es hat nicht das Geringste mit böser Absicht zu tun.
Bestenfalls könnte man in einem Fall wie diesem von einem Zuviel an guter Absicht sprechen.
Kehren wir also zu dem zurück, was wir vor wenigen
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