Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
obwohl der Mann im Gerichtssaal anwesend ist, derselbe Mann, den er behauptet, gut zu kennen und an jenem Augustnachmittag an seiner Bar vorübergehen gesehen zu haben.
Heißt das, der Zeuge hat alles erfunden, sprich, gelogen? Mit Sicherheit nicht. Die Tatsache, dass die Neger ihm unsympathisch sind und sein offensichtliches Versagen bei der Identifizierung der Fotos bedeuten nicht, dass er bewusst gelogen hat.
Wenn Renna behauptet, sich daran erinnern zu können, Abdou Thiam an jenem Nachmittag ohne seine Tasche in südlicher Richtung an seiner Bar vorübereilen gesehen zu haben, so sagt er damit die Wahrheit.
Und zwar insofern, als er sich tatsächlich an diese Szene erinnert und sie zeitlich an jenem Nachmittag einordnet. Um es genauer auszudrücken: Er erzählt uns, was er für die Wahrheit hält. Das Interessante an der Sache ist – und hier kommen wir zu einem absolut faszinierenden Thema, der Frage, wie das menschliche Gedächtnis funktioniert – das Interessante also an dieser Sache ist, dass Renna glaubt, die Wahrheit zu sagen, weil er sich wirklich an diese Szene erinnert , auch wenn sie sich in Wirklichkeit gar nicht zugetragen hat. Jedenfalls nicht so, wie er sie geschildert hat.«
Pause. Ich wollte, dass mein Exkurs sich in den Köpfen der Richter festsetzte, vor allem der Laienrichter. Deshalb tat ich, als suche ich etwas zwischen den Blättern auf meinem Tisch, und ließ etwa zehn Sekunden verstreichen. Sie sollten Zeit haben, sich zu überlegen, was wohl als Nächstes käme.
»Ich möchte Ihnen jetzt von einem wissenschaftlichen Versuch über das menschliche Gedächtnis berichten – darüber, wie es funktioniert und wie Erinnerungen zustande kommen. Ein amerikanisches Psychologenteam – ich glaube von der Universität Harvard – wollte die Glaubhaftigkeit von Kindheitserinnerungen überprüfen. Dazu wurde neun-, zehnjährigen Kindern von älteren Geschwistern, die man entsprechend instruiert hatte, erzählt, sie seien mit vier, fünf Jahren einmal fast entführt worden und zwar in einem Supermarkt. Ihre Mutter sei einen Moment lang unachtsam gewesen, ein Mann habe sie an der Hand gepackt und zum Ausgang gezerrt. Die Mutter habe ihr Verschwinden aber sofort bemerkt und angefangen, laut zu schreien, was den Bösewicht in die Flucht geschlagen hätte.
In Wahrheit hatte sich nichts dergleichen abgespielt, aber wenige Monate, nachdem sie die Geschichte erzählt bekommen hatten, glaubten die Kinder nicht nur, sich genau daran erinnern zu können – und in gewissem Sinne erinnerten sie sich tatsächlich daran – sondern schmückten sie sogar noch mit zahlreichen Details aus, die in der ursprünglichen Version überhaupt nicht enthalten gewesen waren.
Logen diese Kinder? Das heißt: Machten sie bewusst falsche Angaben? Mit Sicherheit nicht.
Berichteten sie über ein Ereignis, das tatsächlich stattgefunden hatte? Mit Sicherheit nicht.
Es gilt als erwiesen – und gehört zu den wichtigsten Forschungsgebieten der modernen Rechtspsychologie – dass sowohl Kinder als auch Erwachsene sich, was die Herkunft ihrer Erinnerungen betrifft, irren können und bisweilen überzeugt sind, sich an Ereignisse, Zusammenhänge und Einzelheiten zu erinnern , die ihnen in Wirklichkeit von anderen suggeriert wurden. Absichtlich, wie in dem Versuch, von dem ich Ihnen erzählt habe. Oder unabsichtlich, wie es in vielen Situationen des Alltagslebens vorkommt und manchmal eben auch bei Ermittlungen.
Wenn wir dies berücksichtigen, können wir eine Antwort auf die Frage geben, die der Staatsanwalt in seinem Plädoyer hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Zeugen Renna gestellt hat. Der Staatsanwalt hat sich und vor allem Sie gefragt: Hatte der Zeuge Renna einen Grund, zu lügen und mithin Abdou Thiam zu Unrecht zu beschuldigen?
Wir können diese Frage getrost mit Nein beantworten. Herr Renna hat nicht gelogen. Neben lügen, also bewusst etwas Falsches behaupten, und die Wahrheit sagen, gibt es noch eine dritte Möglichkeit. Eine Möglichkeit, die der Staatsanwalt nicht berücksichtigt hat, die Sie aber sehr wohl berücksichtigen sollten. Die Möglichkeit nämlich, dass ein Zeuge eine falsche Version des Geschehens liefert, in der irrtümlichen Annahme, sie sei richtig.
Lassen Sie mich dieses Phänomen einmal die unbewusste Falschaussage nennen.«
Sie wirkten interessiert. Selbst der Vorsitzende und der Schöffe mit dem Gesicht eines pensionierten Offiziers, also die beiden, die meiner Ansicht nach bereits
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