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Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Titel: Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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mich zur Erörterung dieser Frage kurz auf einen Satz zurückkommen, den der Herr Staatsanwalt in seinem Plädoyer geäußert hat.
    Er sagte wortwörtlich – ich habe mir den Satz notiert: Demnach war es mit hoher Wahrscheinlichkeit so, dass der Angeklagte nach seiner Rückkehr aus Neapel – ob in einem triebgesteuerten Anfall oder weil er das Verbrechen bereits bis ins kleinste Detail geplant hatte – dass er also von Bari nach Monopoli bzw. Capitolo weitergefahren ist, dort, um ungestört zu sein, sein Handy ausgeschaltet und das Kind entführt hat ... et cetera, et cetera. Von dieser hohen Wahrscheinlichkeit leitet der Staatsanwalt ein wichtiges, wenn nicht entscheidendes Argument ab, anhand dessen er die Schuld des Angeklagten postuliert und seine lebenslängliche Haftstrafe einfordert.
    Ist diese Argumentation stichhaltig? Ist sie korrekt? Um das überprüfen zu können, müssen wir zunächst einmal feststellen, was Wahrscheinlichkeit überhaupt bedeutet.«
    Ich machte eine Pause, nahm die Notiz zur Hand, die ich mir kurz zuvor in der Bibliothek gemacht hatte, und las.
    »Wahrscheinlich, heißt es im ›Zingarelli-Wörterbuch‹, ist das, was wahr scheint und somit glaubhaft ist.
    Wahr scheint und glaubhaft ist.
    Für das Wort wahr gibt uns der Zingarelli folgende Definition: Wahr ist, was tatsächlich geschehen ist, was voll und ganz mit der objektiven Realität übereinstimmt. Unter dem Begriff wahr wird auch der Ausdruck wahr scheinen aufgeführt. Der Zingarelli erklärt, dass man diesen Ausdruck in Zusammenhang mit Dingen benützt, die künstlich sind, indem sie die Realität perfekt imitieren. Etwas, was wahr scheint, ist also etwas Künstliches, etwas, was die Realität nachahmt.
    Erinnern Sie sich noch an die Definition von wahrscheinlich ? Das vom Staatsanwalt gebrauchte Wort? Wahrscheinlich ist das, was wahr scheint, und was wahr scheint ist etwas, was die Realität imitiert, jedoch nicht mit ihr identisch ist. Man könnte auch sagen, sich von ihr unterscheidet. Indem er den Begriff wahrscheinlich verwendet, gibt der Staatsanwalt implizit und unbewusst zu, nicht den Begriff wahr gebrauchen zu können. Sie sehen also: Schon allein die Rede, mit der die Anklage ihren Antrag formuliert, birgt grundsätzliche Schwachstellen.«
    An diesem Punkt wurde Cervellati, wie erwartet, böse und protestierte beim Vorsitzenden. Es gehe nicht an, dass man dem Verteidiger gestatte, das Amt des Staatsanwalts mit spitzfindigen Argumenten der billigsten Art ins Lächerliche zu ziehen. Dem Vorsitzenden gefiel diese Unterbrechung nicht. Er rief Cervellati in Erinnerung, dass der Verteidiger sagen konnte, was er wollte, solange er niemanden persönlich beleidigte, und er hatte nicht den Eindruck, dass dies hier der Fall sei. Cervellati wollte noch etwas erwidern, aber der Vorsitzende fiel ihm – diesmal ausgesprochen brüsk – ins Wort; wenn er Einwände gegen mein Plädoyer habe, so könne er die hinterher vorbringen. Das sei sein letztes Wort, und er würde keine weiteren Unterbrechungen dulden. Danach wandte er sich an mich und forderte mich auf, weiterzusprechen. Ich dankte, vermied bewusst jegliche Anspielung auf die Unterbrechung und setzte mein Plädoyer fort.
    »Was wir da soeben kurz über die Bedeutung der beiden Schlüsselwörter wahr und wahrscheinlich gesagt haben, verschafft uns eine interessante Deutungsmöglichkeit der Argumente des Staatsanwalts und der psychologischen Faktoren, die ihnen zu Grunde liegen.
    Nun führt man einen Prozess aber nicht mit psychologischen Interpretationen dessen, was der Staatsanwalt sagt. Und ebenso wenig Sinn macht es, das vom Staatsanwalt Gesagte bis ins kleinste Detail zu analysieren, um festzustellen, ob seine Argumentation richtig oder falsch ist. Denn: Seine Argumentation könnte falsch sein, die Schlüsse, die er daraus zieht, aber trotzdem richtig. Das heißt, es könnte richtig sein, den Angeklagten zu verurteilen, trotz der fehlerhaften Argumentation des Staatsanwalts, einfach aufgrund einer anderen, korrekteren Beweisführung.«
    Cervellati sprang auf, warf seine Robe auf den Stuhl und verließ demonstrativ den Saal. Ich tat, als würde ich es nicht merken.
    »Es genügt also nicht, die eventuellen Schwachstellen in der Argumentation des Staatsanwalts aufzuspüren. Viel wichtiger ist es, festzustellen, ob das zusammengetragene Beweismaterial es erlaubt, ein Urteil zu fällen, das der Wahrheit – und nicht der Wahrscheinlichkeit – Rechnung trägt. Wir wollen uns

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