Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
dieser Aufgabe nicht entziehen. Doch ich möchte, bevor ich sie angehe, noch einmal kurz auf einen Grundsatz zu sprechen kommen.
Einen Grundsatz, von dem ich gerne hätte, dass Sie ihn während dieser ganzen Sitzung und vor allem hinterher, im Beratungszimmer, präsent haben. Um jemanden verurteilen zu können, dürfen Sie sich nicht darauf berufen, dass eine bestimmte Version des Tathergangs, eine hypothetische Rekonstruktion des Falles, wahrscheinlich oder auch höchstwahrscheinlich ist. Sie müssen sagen können, dass diese Rekonstruktion wahr ist. Wenn Sie dazu in der Lage sind, sollten Sie den Angeklagten verurteilen. Und sei es zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe.
In dem Prozess, der uns heute beschäftigt, lautet die Rekonstruktion des mutmaßlichen Tathergangs gemäß der Anklage wie folgt: Thiam, Abdou, hat am 5. August 1999 den minderjährigen Rubino, Francesco, entführt und später seinen Tod durch Ersticken herbeigeführt.
Können wir aufgrund der vorliegenden Beweise ruhigen Gewissens behaupten, dass diese Rekonstruktion des Tatverlaufs wahr ist? In anderen Worten: Können wir behaupten, dass es sich hierbei um eine korrekte Beschreibung dessen handelt, was wahrhaftig vorgefallen, was historisch wahr ist, und nicht nur um eine bloße Vermutung, eine Möglichkeit, wie die Dinge gelaufen sein könnten ?«
Ich hielt inne, als hätte ich den Faden verloren, richtete den Blick nach unten, fuhr mir mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand über die Stirn. Nach einer Weile hob ich den Blick wieder, sah die Richter an, schwieg aber noch ein paar Sekunden. Es herrschte Stille, alles blickte mich erwartungsvoll an.
»Lassen sie uns diese Beweise gemeinsam unter die Lupe nehmen. Insbesondere die Aussage des Zeugen Renna, Besitzer der Bar Maracaibo. Um Irrtümern vorzubeugen, möchte ich eines sofort klarstellen: Dieser Zeuge sagt die Wahrheit, darin stimme ich mit dem Staatsanwalt überein. Oder präziser ausgedrückt: Er lügt nicht.«
Ich legte neuerlich eine kurze Pause ein; die Richter sollten Gelegenheit haben, sich zu fragen, worauf ich hinauswollte.
»Denn lügen heißt, bewusst etwas Unwahres zu behaupten, und ich bin überzeugt, dass Herr Renna nicht bewusst etwas Unwahres behauptet hat. Wenn er berichtet, er habe Abdou Thiam genau an jenem Nachmittag zu der entsprechenden Uhrzeit an seiner Bar vorübergehen sehen, so ist er der Meinung, damit die Wahrheit zu sagen. Er hätte ja auch gar keinen Grund, falsches Zeugnis wider den Angeklagten abzulegen.
Sicher, seine Anhörung hat gezeigt, dass er den afrikanischen Straßenverkäufern, die sich in der Gegend von Capitolo und um seine Bar herum aufhalten, nicht gerade mit Sympathie begegnet.
Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang eine kleine Passage aus dem Kreuzverhör vorlesen. Die Rede ist von Afrikanern – Neger , wie Herr Renna sie nennt. Der Verteidiger fragt Renna, ob die Anwesenheit dieser Personen sein Geschäft stört. Der Zeuge antwortet: ›Klar beeinträchtigt das mein Geschäft, und wie.‹
›Verzeihung, Herr Renna, aber wenn das Ihr Geschäft so beeinträchtigt, warum rufen Sie dann nicht die Polizei oder die Carabinieri? ‹
›Warum ich die nicht rufe? Ha, die rufe ich wohl, aber hast du schon mal erlebt, dass die tatsächlich kommen?‹
Kurz, Herr Renna – das sagt er uns selbst – ist nicht sonderlich erbaut von der Anwesenheit der afrikanischen Straßenverkäufer in Capitolo und in der Nähe seiner Bar. Er hätte gern, dass die Ordnungshüter kämen und für Ordnung sorgten, aber das geschieht nicht. Und deshalb ist er ein wenig verärgert.
All das bedeutet freilich nicht, dass er uns bewusst die Unwahrheit über Herrn Abdou Thiam gesagt hat.
Aber abgesehen von seiner Sympathie oder Antipathie gegenüber diesen Negern und von seinem vergeblichen Wunsch, die Polizei möge etwas gegen diese Leute unternehmen – hat er unbedingt die Wahrheit gesagt, die objektive Wahrheit? Können wir gegen jeden berechtigten Zweifel behaupten, dass die Version dieses Zeugen tatsächlich der historischen Wahrheit und dem Verlauf der Ereignisse entspricht?
Nun, mindestens ein Zweifel ergibt sich aus dem kleinen Experiment mit den Fotos, an das Sie sich bestimmt erinnern. Renna erkennt den Angeklagten gleich auf zwei Fotos, die ich ihm vorlege, nicht wieder. Sie haben diese Bilder in den Akten und können sich, wenn Sie möchten, persönlich von der Ähnlichkeit der Bilder überzeugen. Er erkennt den Angeklagten also nicht, und das,
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