Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre
Gedanke war störend, aber noch während ich ihn dachte, wurde mir klar, dass sich diese Episode bestimmt nicht wiederholen würde.
Ich sagte mir, dass ich längst zu einem Psychopathen geworden war. Das sicherte mir eine konstante, erträgliche Tristesse und schützte mich vor dem wirklich verheerenden Unglücklichsein, auch wenn ich dafür permanent unzufrieden war und mit Wünschen umging, die ich mir selbst nicht eingestehen konnte. Dann sagte ich mir jedoch, dass dies geistlose und obendrein rührselige Überlegungen seien und dass ich vor Selbstmitleid zerfloss. Und da ich Leute, die sich selbst bemitleiden, schon immer verabscheut habe, beschloss ich, mir lieber ein paar Bücher zu kaufen.
Um diese Zeit – es war bereits elf – gab es nur einen Ort, wo ich Bücher kaufen und nebenbei auch ein wenig plaudern konnte. Die Osteria del caffellatte , bei der es sich trotz des Namens um einen Buchladen handelt.
Er öffnet abends um zehn und schließt morgens um sechs. Der Buchhändler – Ottavio – ist ein ehemaliger Gymnasiallehrer, der an chronischer Schlaflosigkeit leidet. Er hatte seinen Lehrerjob während all der Jahre, in denen er gezwungen war, ihn auszuüben, von ganzem Herzen gehasst. Dann war eine kinderlose, alte Tante gestorben, deren einziger Verwandter er war, und hatte ihm Geld und ein winziges, zweistöckiges Häuschen mitten im Stadtzentrum von Bari hinterlassen – die Gelegenheit seines Lebens. Ottavio hatte sie beim Schopfe gepackt, war selbst in die zweite Etage eingezogen und hatte in der ersten und im Erdgeschoss eine Buchhandlung eingerichtet. Und da er nachts nicht schlafen konnte, hatte er sich diese ungewöhnlichen Öffnungszeiten ausgedacht. Absurd, meinen viele, aber es funktioniert.
In der Osteria del caffellatte triffst du immer Leute an. Nicht viele, aber zu jeder Uhrzeit. Einige kuriose Gestalten natürlich, aber auch, und sogar vorwiegend, ganz gewöhnliche Menschen. Die sich im Übrigen als die kuriosesten von allen herausstellen, wenn du sie um vier Uhr früh beim Bücherkaufen erlebst.
Es gibt drei Tischchen und einen kleinen Tresen. Wer möchte, kann etwas trinken oder die Kuchen probieren, die Ottavio nachmittags bäckt, bevor er seinen Laden öffnet. Frühmorgens bekommt man den Kuchen nebst Milchkaffee zum Frühstück. Und was übrig bleibt, schenkt Ottavio dir bei Ladenschluss, sofern du da in der Buchhandlung bist. Danach sagt er, wir sehen uns morgen, schließt den Laden ab und raucht vor der Tür die einzige Zigarette des Tages. Dann macht er einen Spaziergang durch die Stadt, die zu neuem Leben erwacht, und wenn die andern zu arbeiten beginnen, legt er sich schlafen, denn tagsüber gelingt ihm das.
An diesem Abend waren drei Mädchen in der Buchhandlung, die sich über etwas Lustiges unterhielten. Mir fiel auf, dass sie bisweilen in meine Richtung blickten und danach besonders laut lachten. So weit ist es also schon gekommen, dachte ich mir. Meine Lebenskurve neigt sich dem Nullpunkt entgegen. Ich bin ein Mann, über den man lacht.
Oder wenn ich’s mir recht überlege, doch besser ein Paranoider im Endstadium.
Der Buchhändler saß an einem der Tischchen der winzigen Bar und las. Als er mich bemerkte, winkte er mir kurz zu und las weiter. Ich begann zwischen Tischen und Regalen umherzuwandern.
Irgendwann nahm ich den Mann ohne Eigenschaften zur Hand, blätterte ein wenig darin herum, las ein paar Seiten und stellte ihn wieder zurück. Ich mache das seit vielen Jahren so. Eigentlich schon immer. Mit Musil und vor allem mit Joyces »Ulysses«.
Dabei halte ich mir jedes Mal meine Ignoranz vor Augen und denke, dass ich diese Bücher lesen müsste. Aber bisher habe ich es nicht einmal geschafft, sie auch nur zu kaufen.
Ich glaube, ich werde die... nennen wir’s mal »Abenteuer« des jungen Daedalus nie aus erster Hand erfahren, und ebenso wenig die von Mister Bloom oder Ulrich. Damit habe ich mich abgefunden. Aber wenn ich in einer Buchhandlung bin, blättere ich diese Werke nach wie vor durch – eine Art Ritual der Unvollkommenheit. Meiner Unvollkommenheit.
Beim Umherschweifen wurde ich auf einen schönen Einband aufmerksam, mit einem sehr schönen Titel. Nights in the Gardens of Brooklyn. Ich kannte weder den Autor – Harvey Swados – noch den Verlag – Bookever. Die Einleitung war von Grace Paley, ich las ein paar Zeilen, und da sie mir gefiel, nahm ich das Buch.
Ein junger Polizist betrat den Laden. Er ging zu Ottavio, fragte ihn etwas. Draußen
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