Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre
Fälle, in denen man dringend den Rat eines Außenstehenden braucht, und das war so ein Fall. Aber mir kam wieder einmal schmerzlich zu Bewusstsein, dass es keinen einzigen Kollegen gab, den ich um Rat hätte angehen können. Ich vertraute nur wenigen, war mit keinem wirklich befreundet. Und über diese Sache konnte ich nur mit einem Freund reden. Mit einem Freund, der wusste, wovon die Rede war – und dichthalten konnte.
Mir fielen nur zwei Personen ein, auf die das zutraf. Und kurioserweise waren beide Staatsanwälte. Colaianni und Alessandra Mantovani.
Colaianni wollte ich nicht noch mal belästigen, aber vielleicht war dies eine gute Gelegenheit, mich wieder einmal bei Alessandra zu melden. Wir hatten ewig nichts mehr voneinander gehört, genauer gesagt, seit sie Bari den Rücken gekehrt und sich ans Gericht von Palermo hatte versetzen lassen. Wie viele andere war sie vor etwas geflohen. Nur dass sie es mit mehr Entschlossenheit getan hatte als andere.
Alessandra meldete sich nach mehrmaligem Läuten, als ich fast schon wieder auflegen wollte. Wir ließen jeder ein paar lockere Sprüche vom Stapel, wie man es eben so macht, wenn man eine eingerostete Beziehung wieder in Gang bringen und zur alten Vertrautheit zurückfinden möchte.
»Freut mich, dich zu hören, Guerrieri. Weißt du, dass ich es manchmal richtig bereue, damals nichts mit dir angefangen zu haben? Ich glaube, dann hätte ich mehr Glück gehabt. Aber nein, ich suche mir einen Loser nach dem andern aus. Das wird langsam zu einem echten Problem, schließlich bin ich mit meinen vierzig auch nicht mehr die Jüngste.«
Ach, was redest du von Losern. Der allergrößte Loser bin ich, noch viel schlimmer als alle deine Affären. Und ein Arschloch obendrein. Wenn du wüsstest, was ich gestern Nacht angestellt habe...
Das sagte ich natürlich nicht. Ich sagte, noch sei es nicht zu spät, wenn sie wirklich ein Faible für Rechtsanwälte mit zweifelhafter Vergangenheit und ungewisser Gegenwart habe, von der Zukunft ganz zu schweigen. Wenn sie wolle, käme ich stante pede nach Palermo; dann könne sie ihre Leibwächter nach Hause schicken, und wir würden sehen, was dabei herauskam.
Sie lachte. Dann sagte sie noch einmal, dass sie sich über meinen Anruf freue und dass ich ihr jetzt auch den Grund desselben mitteilen könne. Ich tat es. Sie hörte mir aufmerksam zu, hakte lediglich ein paar Mal nach, wenn ihr etwas unklar war. Als ich mit meinem Bericht fertig war, fragte ich sie, was sie von meiner Idee hielt.
»Du hast Recht. Theoretisch spricht nichts dagegen, den Verteidiger eines Angeklagten als Zeugen vorzuladen. Praktisch dürfte es aber äußerst schwierig werden, den Antrag vor Gericht durchzubringen. Dafür müsstest du den Richtern einen guten – einen stichhaltigen – Grund nennen können. Und das sind deine Verdächtigungen leider nicht.«
»Ich weiß, das ist mein größtes Problem. Wie erreiche ich, dass sie ihn vorladen?«
»Sieh erst einmal zu, dass der Angeklagte vernommen und seine Frau als Zeugin angehört wird. Sie müssen genau berichten, unter welch merkwürdigen Begleitumständen dieser Macrì plötzlich aufgetaucht ist. Danach kannst du es auf einen Versuch ankommen lassen, vielleicht hast du ja Glück – obwohl ich nicht darauf wetten würde. Berufungsrichter wollen keine Scherereien.«
»Nehmen wir einmal an, sie laden Macrì vor. Was meinst du, kann er sich auf seine Schweigepflicht berufen und die Aussage verweigern?«
Sie dachte einen Moment nach, bevor sie mir antwortete.
»Ich würde sagen, nein. Das Berufsgeheimnis dient dem Interesse des Mandanten. Macrì könnte sich darauf berufen, wenn zu befürchten wäre, dass seine Aussage dem ehemaligen Mandanten schadet. Aber so, wie du mir die Sache schilderst...Vielleicht wird es sogar einen Präzedenzfall geben.«
»Mein Mandant könnte ja erklären, dass er seinen ehemaligen Anwalt von der Schweigepflicht entbindet.«
»Sicher. Damit wäre das Thema vom Tisch. An deiner Stelle würde ich mich aber erst noch vergewissern, wie die Rechtslage ist. Und mir eine kugelsichere Weste zulegen, bevor ich in dieses Wespennest steche.«
Als ich den Hörer auflegte, fühlte ich mich besser als noch wenige Minuten zuvor, und meine Idee kam mir bei Weitem nicht mehr so absurd vor.
24
A m Nachmittag nahm ich mein Fahrrad und fuhr zum Gefängnis. Es kostete mich beträchtliche Überwindung, denn die Vorstellung, Paolicelli gegenüberzutreten – nicht einmal einen Tag nach dem,
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